Auch im Koran werden Kain und Abel erwähnt. Es sind die beiden Söhne von Adam und Eva. Auf Arabisch heißen sie Qabil und Habil. Beide bringen Gott ein Opfer dar. Das von Abel dargebrachte Opfer wird von Gott angenommen, während das von Kain von Gott abgelehnt wird. Darüber gerät Kain so in Wut, dass er auf seinen Bruder losgeht, um ihn zu töten. Dieser weist noch darauf hin, dass Gott nur von den Gottesfürchtigen annimmt, woraus man den Schluss ziehen kann, dass Kain nicht dazu gehört. Abel setzt sich gegen den Angriff seines Bruders nicht zur Wehr, da er Gott fürchtet. Ibn Kathir verweist in diesem Zusammenhang auf einen Hadith, wonach derjenige, der Gewalt anwendet, um sich zu verteidigen, genauso zu betrachten sei wie der, der angreift, denn beide sind gewillt, den anderen zu töten. Demnach wäre Abel, würde er sich gewaltsam zur Wehr setzen, ebenso als Mörder anzusehen wie Kain.
Nun fällt eine Aussage, die man sowohl Abel als auch Kain zuordnen kann, da der Koran an dieser Stelle unklar ist. Einer der beiden sagt also:
„Ich will, dass du meine und deine Sünde auf dich lädst und so einer von den Insassen des (Höllen)feuers sein wirst. Das ist der Lohn der Ungerechten.“
Nach klassischer Auslegung wird diese Aussage Abel in den Mund gelegt und gemeint ist, dass Kain neben dem Mord an ihm (meine Sünde im Sinne von die Sünde an mir) auch für die Sünden, die zur Ablehnung seines Opfers geführt haben, am Jüngsten Tage zur Rechenschaft gezogen wird. Diese Aussage steigert Kains Wut noch zusätzlich, sodass er seinen Bruder letztendlich totschlägt. Danach überkommt ihn Reue, er erkennt seine schlechte Tat und will sie verbergen. Gott schickt ihm einen Raben, der ihm zeigt, wie man einen Leichnam begräbt. Dieser Mord gilt als der erste Mord der Menschheit.
Was hatte Kain getan, um Gott so zu verärgern, dass er sein Opfer nicht angenommen hat? Darüber gibt es nur Spekulationen. Der Koran sagt dazu nichts.
Manche Kommentatoren sagen, dass das Opfer von minderwertiger Qualität gewesen sei.
Andere wiederum sagen, dass Adam beabsichtigte, den jüngeren Bruder Abel zu seinem Nachfolger zu machen, was Kain sehr erzürnte. Adam wollte Gott die Entscheidung überlassen und befahl seinen beiden Söhnen, ein Opfer darzubringen. Derjenige, dessen Opfer Gott annehmen würde, solle dann sein Nachfolger werden. Gott nahm Abels Opfer an, weil dieser sehr viel Zeit und Sorgfalt bei der Auswahl des Opfers aufgewendet hatte.
Dann gibt es Kommentatoren, vornehmlich aus dem salafistischen Lager, die meinen, dass Kain Gottes Missfallen erregt hatte, weil er eine Entscheidung Gottes nicht akzeptieren wollte. Konkret geht es dabei um die Auswahl der Ehefrau für Kain. Laut dieser These gebar Eva immer Zwillingspaare, die sich immer aus einem Mädchen und einem Jungen zusammensetzten. Um sich weiter vermehren zu können, wählte Adam ein Mädchen aus einem Zwillingspaar aus und vermählte es mit einem Jungen aus einem anderen Zwillingspaar. Die Frau, die Abel zugesprochen wurde, war hübsch, während die Frau, die Kain ehelichen sollte, hässlich war. Kain wollte die Schwester heiraten, die Abel zugesprochen war. Daraufhin beschloss Adam, die Entscheidung Gott zu überlassen. Beide Söhne sollten Gott ein Opfer darbringen und der Sohn, dessen Opfer angenommen würde, bekäme die hübsche Tochter zur Frau. Und Gott nahm Abels Opfer an. So viel zur klassischen Interpretation.
Ich selbst deute die Geschichte anders. Aus meiner Sicht ist es so, dass der Koran unter anderem Persönlichkeitsstypen präsentiert. Dabei entspricht der Leugner einem Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind nicht zu Empathie fähig und stellen ihre eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund. Sie halten sich selbst für unfehlbar und einzigartig und reagieren sehr empfindlich auf Kritik. Durch Kritik fühlen sie sich als Person direkt angegriffen und herabgesetzt. Sie können nicht konstruktiv mit Kritik umgehen, sondern reagieren mit Zorn und Hass darauf. Die Schuld für Konflikte sehen sie auch grundsätzlich bei anderen, nie bei sich selbst. Wie passt das nun zur Geschichte von Kain und Abel?
Wir wissen nicht, was vor den im Koran geschilderten Ereignissen vorgefallen ist. Das ist auch irrelevant, denn kein Vorfall rechtfertigt die völlig überzogene Reaktion Kains. Seine Wut steigert sich so ins Extreme, dass nur die Ermordung seines Bruders sie befriedigen kann. Dann noch zu sehen, dass der Bruder seine Wut besser steuern kann, dadurch dass er selbst bei Todesgefahr auf Gegenwehr verzichtet, steigert seine Wut noch zusätzlich. Niemand darf aus Sicht des Narzissten besser sein als er selbst. Das käme einer indirekten Kritik gleich, die als Demütigung verstanden wird.
Aus meiner Sicht ist es Kain, der die Aussage
„Ich will, dass du meine und deine Sünde auf dich lädst und so einer von den Insassen des (Höllen)feuers sein wirst. Das ist der Lohn der Ungerechten.“
tätigt. Er sieht die Schuld, so wie es für einen Narzissten typisch ist, beim anderen. Die Schuld Abels ist also die Tatsache, dass sein Opfer angenommen wurde. Das wird als Provokation verstanden. Auch Iblis gibt Gott die Schuld dafür, dass er (also Iblis) wegen seines eigenen Fehlverhaltens das Paradies verlassen muss. Narzissten denken in eigenen Strukturen. In ihrer Wahrnehmung sind sie fehlerfrei und machen alles richtig. Wenn es also zu Konflikten kommt, dann MUSS die Schuld zwangsläufig beim anderen liegen. Ob das nun mit den Tatsachen übereinstimmt oder nicht, spielt keine Rolle. Zur Not behilft sich der Narzisst dann auch mit Unterstellungen. In unserem Falle also unterstellt Kain Abel, dass er einer der Ungerechten sei. Die Schuld für die eigene Tat wird beim anderen gesehen. So nach dem Motto: „Hättest du mich nicht so provoziert, wäre das alles nicht passiert.“ Sein Hass braucht nicht nur das physische Ventil, also die Tötung, sondern zusätzlich auch noch die verbale Vernichtung. Er wünscht seinem Bruder die Hölle. Das sind seine letzten Worte an seinen Bruder. Das alles passt wunderbar zur Persönlichkeit des Narzissten.
Und nun kommt der Rabe ins Spiel. Der Leichnam Abels liegt für jeden sichtbar auf dem Boden. Auch wenn der Narzisst Kain Abel die Schuld gibt, dafür dass er ihn ermordet hat, ist ein Mord geschehen und das passt nicht in das schöne Bild, das der Narzisst von sich selbst hat. Aber wohin damit? Niemand soll erfahren, dass Kain ein Mörder ist. Er beobachtet, wie der Rabe in der Erde scharrte und plötzlich kommt die Erkenntnis: jemand, der irgendwo begraben ist, ist verschwunden, nicht auffindbar. Es ärgert ihn allerdings, dass er, der Einzigartige Unfehlbare, das von einem so unbedeutsamen Tier wie einem Raben lernen musste. Denn bereuen tut Kain nichts. Das ist ein Trugschluss. Kain bereut nicht den Mord an sich. Das arabische Wort für Reue ist Tauba. Das kommt aber in dieser Geschichte gar nicht vor. Das arabische Wort, das hier vorkommt, ist nadimin, von der Wurzel n d m. Und das steht für Selbstmitleid. Von dieser Wurzel abgeleitete Begriffe kommen noch an anderen Stellen im Koran vor. Es werden damit Menschen beschrieben, die Selbstmitleid empfinden angesichts der Strafe, die sie erwartet. Das ist etwas ganz anderes als Reue. Kain empfindet keine Reue, sondern er tut sich selbst leid, weil er verstanden hat, dass er nicht einzigartig und unfehlbar ist und ein so minderwertiges Tier wie ein Rabe ihm zeigt, wie man einen Leichnam beseitigt. Das kratzt an seinem Ego, genauso wie die Tatsache, dass er einen Mord begangen hat. Er bereut nicht die Tat, aber er möchte sie verheimlichen, weil sie ein schlechtes Licht auf ihn werfen könnte.
Hier die Verse dazu:
Sure 5
27 Und verlies ihnen die Kunde von den beiden Söhnen Adams, der Wahrheit entsprechend, als sie ein Opfer darbrachten. Da wurde es von dem einen von ihnen angenommen, während es vom anderen nicht angenommen wurde. Der sagte: „Ich werde dich ganz gewiss töten.“ Der andere sagte: „Gott nimmt nur von den Gottesfürchtigen an.
28 Wenn du deine Hand nach mir ausstreckst, um mich zu töten, so werde ich meine Hand nicht nach dir ausstrecken, um dich zu töten. Ich fürchte Gott, den Herrn der Weltenbewohner.
29 Ich will, dass du meine und deine Sünde auf dich lädst und so einer von den Insassen des (Höllen)feuers sein wirst. Das ist der Lohn der Ungerechten.“
30 Doch machte ihn seine Seele willig, seinen Bruder zu töten. Und so tötete er ihn. Und er wurde einer von den Verlierern.
31 Da schickte Gott einen Raben, der in der Erde scharrte, um ihm zu zeigen, wie er die böse Tat an seinem Bruder verbergen könne. Er sagte: „O wehe mir! War ich unfähig, zu sein wie dieser Rabe und die böse Tat an meinem Bruder zu verbergen?“ So wurde er von denjenigen, die bereuen.