Besprechung von Sure 12 „Yusuf“

Besprechung von Sure 12 „Yusuf“.

Der koranische Prophet Yusuf entspricht dem alttestamentarischen Propheten Josef.
Sure 12 „Yusuf“ (mekkanisch)
deutsche Übersetzung von Abdullah Frank Bubenheim und Dr. Nadeem Elyas
Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes

1 Alif-Lam-Ra. Dies sind die Zeichen des deutlichen Buches.
Die Sure beginnt mit sogenannten getrennten Buchstaben al-ḥurūf al-muqaṭṭaʿa. In unserem Falle
also mit Alif-Lam-Ra. Es sind drei Buchstaben des arabischen Alphabets, die kein Wort ergeben.
Insgesamt beginnen 29 Suren des Korans mit einer Kombination aus getrennten Buchstaben. Es
sind nicht immer dieselben Buchstaben. Manche Suren beginnen sogar nur mit einem einzigen
isolierten Buchstaben wie beispielsweise die Sure 38 Sad.
Auffallend ist, dass diese Buchstabenkombinationen häufig vor Versen stehen, die die Deutlichkeit,
Klarheit und Weisheit des Buches bestätigen, so wie auch in unserem Beispiel. Andere Beispiele
sind:
Sure 2, Verse 1 und 2
Alif-Lam-Mim
Dieses Buch, an dem es keinen Zweifel gibt, ist eine Rechtleitung für die Gottesfürchtigen,

Sure 26, Verse 1 und 2
Ta-Sin-Mim.
Dies sind die Zeichen des deutlichen Buches.

Sure 27, Vers 1
Ta-Sin. Dies sind die Zeichen des Qur’ans und eines deutlichen Buches,

Sure 31, Verse 1 und 2
Alif-Lam-Mim.
Dies sind die Zeichen des weisen Buches,

Sure 41, Verse 1 bis 3
Ha-Mim.
(Dies ist) eine Offenbarung vom Allerbarmer, dem Barmherzigen,
ein Buch, dessen Zeichen ausführlich dargelegt sind, als ein arabischer Qur’an, für Leute, die
Bescheid wissen,

Zur Bedeutung dieser Buchstabenkombinationen gab und gibt verschiedene
Interpretationsansätze, die sehr unterschiedlich sind, da es keine Überlieferungen zur Bedeutung
dieser Buchstaben gibt. Abul Ala Maududi, ein indisch-pakistanischer Journalist und einer der
wichtigsten Denker einer fundamentalistischen Auslegung des Islams im 20. Jahrhundert, ging
daher davon aus, dass die Bedeutung dieser Buchstaben den Menschen damals bekannt war, denn
wenn sie nicht gewusst hätten, was sie zu bedeuten haben, hätten sie gefragt. Es gibt aber keine
Überlieferungen darüber, dass die Menschen Muhammad nach der Bedeutung dieser Buchstaben
gefragt hätten. Die Bedeutung sei dann im Laufe der Jahre verloren gegangen.

Einige klassische Kommentatoren wie beispielsweise al-Ṭabarī und al-Zajjāj (10. Jahrhundert)
gingen davon aus, dass diese Buchstabenkombinationen den sogenannten Mutashabihat, also den
mehrdeutigen Versen, zuzuordnen sind. Diese werden in Sure 3, Vers 7 erwähnt:
Er ist es, Der das Buch (als Offenbarung) auf dich herabgesandt hat. Dazu gehören eindeutige Verse
– sie sind der Kern des Buches – und andere, mehrdeutige. Was aber diejenigen angeht, in deren
Herzen (Neigung zum) Abschweifen ist, so folgen sie dem, was davon mehrdeutig ist, im Trachten
nach Irreführung und im Trachten nach ihrer Missdeutung. Aber niemand weiß ihre Deutung außer
Allah. Und diejenigen, die im Wissen fest gegründet sind, sagen: „Wir glauben daran; alles ist von
unserem Herrn.“ Aber nur diejenigen bedenken, die Verstand besitzen.

Aber wie war das mit der Mehrdeutigkeit zu verstehen. Manche klassischen Kommentatoren wie
z.B. al-Zajjāj beriefen sich auf eine Überlieferung von Al-Sha’bi, derzufolge Gott in jeder Schrift ein
Geheimnis eingebaut habe. Und im Koran seien dies die getrennten Buchstaben. Sie seien also ein
göttliches Geheimnis, das nur Gott allein kenne. Abul Ala Maududi schlussfolgerte daraus, dass für
einen Gläubigen ein rechtschaffenes Leben auch ohne Kenntnis dieser Buchstaben möglich sei und
das Lüften des Geheimnisses dieser Buchstaben zur Erlangung des Paradieses (dem eigentlichen
Ziel des Gläubigen) nicht notwendig sei.

Der nordafrikanische Gelehrte Al-Tha’alibi (15. Jahrhundert) hingegen befand, dass es nichts im
Koran geben kann, was nicht der Exegese unterliegen sollte und ging davon aus, dass Gott diese
Buchstabenkombinationen bewusst eingefügt habe, um die Menschen zum Nachdenken
anzuregen. Er ging weiterhin davon aus, dass die Buchstabenkombinationen kein göttliches
Geheimins seien, das vom Menschen per se nicht gelüftet werden kann, sondern dass die
Buchstabenkombinationen echte Mutashabihat seien, also Verse, die mehrere Bedeutungen haben
können.

Sehr früh schon gab es erste Erklärungsversuche. Ibn ʿAbbās beispielsweise war der Meinung, die
Buchstaben Alif-Lam-Mim stünden für anā Allāh aʿlam (‘Ich bin Gott ich bin wissend’) und Alif-Lam-
Ra für anā Allāh arā (‘Ich bin Gott, ich sehe’) und Alif-Lam-Mim-Sad für anā Allāh aʿlam wa-afḍal
(‘Ich bin Gott und Ich weiß es am besten und bin bevorzugt.
Andere glaubten, jeder Buchstabe stünde für eine Namen Gottes. Die Buchstaben Alim-Lam-Mim
stünden z.B. für Allāh, al-laṭīf, al-majīd un Ha-Mim für al-ḥayy, al-malik. Andere Gelehrte wiederum
sahen in den Buchstaben Abkürzungen für Adjektive, die den Koran beschrieben, wie z.B.
genügend (kāfin), hinführend (hādin), weise (ḥakīm), wissend (ʿālim).
Ibn ʿAjība wiederum orientierte sich an den Lehren der Sufis und meinte, die Buchstaben wären
Hinweise auf Muhammad.

Daneben gab es noch andere Theorien. Ibn al-Jawzī und al-Zamakhsharī z.B. setzten die
Buchstaben in Zusammenhang mit der koranischen Aussage, der Koran könne nur von Gott
verfasst worden sein und keinem Menschen sei es möglich, so eine Schrift zu erstellen. Ein
Beispiel:
Sure 2, Verse 23 und 24
Und wenn ihr im Zweifel über das seid, was Wir Unserem Diener offenbart haben, dann bringt
doch eine Sura gleicher Art bei und ruft eure Zeugen außer Allah an, wenn ihr wahrhaftig seid!
Doch wenn ihr es nicht tut – und ihr werdet es nicht tun – dann hütet euch vor dem (Höllen)feuer,
dessen Brennstoff Menschen und Steine sind. Es ist für die Ungläubigen bereitet.

Diese Feststellung galt den ungläubigen Mekkanern, die Muhammad unterstellten, den Koran
selbst verfasst zu haben.
Sufi-Meister wiederum sahen in den Buchstaben Hinweise auf die verschiedenen Stufen, die ein
Schüler bei seiner Entwicklung erreichen kann.
Nīshāpūrī Ṣūfī al-Sulamī z.B. glaubte dass ṭ-s-m für ṭarab (Freude der Freunde Gottes ) surūr
(‘Entzücken der Gnostiker’) und maqām (‘spiritueller Ort der Liebenden stehe‘).

Sure 12 „Yusuf“

1 Alif-Lam-Ra. Dies sind die Zeichen des deutlichen Buches.
2 Wir haben es als einen arabischen Qur’an hinabgesandt, auf dass ihr begreifen möget.
3 Wir berichten dir die schönsten Geschichten dadurch, dass Wir dir diesen Qur’an (als
Offenbarung) eingegeben haben, obgleich du zuvor wahrlich zu den Unachtsamen gehörtest.

Hier wird zunächst ausgesagt, dass der Koran deutlich ist, dass er in der Muttersprache der
Zielgruppe, also der Mekkaner und der Leute aus dem Umland, gehalten ist, damit man ihn
verstehe. Aber was sagt dieser Vers über Gott aus: Gott will verstanden werden. Er möchte
kommunizieren. Er geht auf Augenhöhe, sieht die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache,
bedient sich ihrer, weil ihm wichtig ist, dass seine Botschaft ankommt. Er wird dadurch, dass er sich
einer menschlichen Sprache bedient, auch menschlich in seiner Kommunikation. Er tritt dem
Menschen dadurch als Mensch entgegen.

Frühe Kommentatoren wie Ibn Kathir z.B. leiten aus diesem Vers ab, dass die arabische Sprache per se die vollkommenste sei und Gott sie deshalb als Kommunikationsmittel auserwählt habe, aber Arabisch ist eine Sprache wie jede andere. Sie ist nicht besser und nicht schlechter und sie ist defizitär, weil sie nämlich von Menschen gemacht
wurde. Sprachen sind nicht in der Lage, Botschaften wirklich unverfälscht zu übermitteln. Eine
erfolgreiche Kommunikation erfordert das Nachfragen, das Klären, das Wiederholen und
Umformulieren. Nur so kann eine Mitteilung einigermaßen adäquat übermittelt werden. Und ist
nicht genau das der Stil des Korans? Ist der Koran nicht eine stete Wiederholung und
Umformulierung ein- und derselben Mitteilung? Ein Thema in Variationen? Und ist nicht auch die
Geschichte, die jetzt folgt, letztenlich ein Thema in Variationen?

Zu Vers 3: Ibn Kathir berichtet, dass die Mekkaner, die ja Geschichten liebten und viele Geschichten
kannten, Muhammad baten, doch auch mal eine Geschichte zu erzählen. Daraufhin soll diese Sure
offenbart worden sein. Warum soll nun diese Geschichte die schönste aller Geschichten sein?
Mohsen Fayz Kashani versteht darunter, dass alles an dieser Sure, an dieser Geschichte, von
ungewöhnlicher Schönheit sei. Die Wortwahl, der Stil, der Aufbau, die Vielschichtigkeit, die Tragik
und Zeitlosigkeit (Allgemeingültigkeit).

Zu dem zweiten Teil „obgleich du zuvor wahrlich zu den Unachtsamen gehörtest“ habe ich keinen
Kommentar finden können. Man könnte es so verstehen, dass die Geschichte über Yusuf damals
unter den Arabern bekannt war und zu Unterhaltungszwecken auch erzählt wurde. Die eigentliche
Bedeutung der Geschichte wurde jedoch dabei verkannt. Wenn Gott eine Geschichte erzählt, dann
nicht zur Unterhaltung, sondern weil er mit der Geschichte den Menschen etwas mitteilen möchte.
Sie enthalten eine Botschaft. Später wird auch erwähnt werden, dass die Geschichten zu deuten
sind. Ihre Bedeutung ist also nicht die, die sich beim oberflächlichen Lesen ergibt, sondern die, die
zu ergründen ist.

Und nun kommt die Geschichte. Dazu vorher noch ein paar Anmerkungen:
im Grunde genommen wird dreimal die gleiche Geschichte erzählt. Es ist eine tragische Geschichte.
Die Akteure kennen sich alle sehr gut. Sie sind entweder über verwandtschaftliche Verhältnisse
oder über ein Arbeitsverhältnis miteinander verbunden. Es gibt immer den gütigen, ehrlichen,
wohlwollenden, schützenden Vater/Ersatzvater, es gibt immer jemanden, der ein Unrecht an
einem anderen Familienmitglied verübt und dies zu kaschieren versucht. Es taucht immer das
Hemd auf, das als Beweisstück dient und letztendlich auch immer die Wahrheit ans Tageslicht
bringt. Es gibt immer den Traum, der die Zukunft zeigt. Es gibt immer das „Gefängnis“, in dem der
Unschuldige sitzt. Und es erfolgt am Ende immer die Rettung des Unschuldigen.
Dreimal die gleiche Geschichte und doch ist es immer eine andere.

4 Als Yusuf zu seinem Vater sagte: „O mein Vater, ich sah elf Sterne und die Sonne und den Mond,
ich sah sie sich vor mir niederwerfen.“
5 Er sagt: „O mein lieber Sohn, erzähle dein (Traum)gesicht nicht deinen Brüdern, sonst werden sie
eine List gegen dich schmieden. Gewiß, der Satan ist dem Menschen ein deutlicher Feind.
6 Und so wird dein Herr dich erwählen und dich etwas von der Deutung der Geschichten lehren
und Seine Gunst an dir und an der Sippe Ya’qubs vollenden, wie Er sie zuvor an deinen beiden
Vätern Ibrahim und lshaq vollendet hat. Gewiß, dein Herr ist Allwissend und Allweise.“

Yusuf war zum Zeitpunkt des Traumes noch ein Kind. Der Traum muss intensiv gewesen sein, sonst
wäre er nicht zu seinem Vater gegangen, um ihm davon zu erzählen. Yusuf selbst versteht die
Bedeutung des Traumes zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber sein Vater. Sein Vater erkennt die
Symbolik. Die elf Sterne stehen für die Brüder Yusufs und die Sonne und der Mond für Yusufs
Eltern. Es muss ihm schon zu diesem Zeitpunkt klar gewesen sein, dass Yusuf ein
außergewöhnlicher Mensch ist, denn auch die Symbolik der Niederwerfung sowohl seitens der
Brüder als auch der eigenen Eltern ist ihm ohne Nachzufragen schlagartig klar. Und er erkennt
sofort die Gefahr, die für Yusuf durch seine eifersüchtigen Brüder besteht. Der Traum bestätigt also
Jakobs Einschätzung der Kinder. Yusuf als etwas sehr Besonderes und die Brüder, die eifersüchtig
auf ihn sind und vor denen er sich in Acht nehmen muss. Jakob erwähnt den Satan, der dem
Menschen ein Feind ist. Damit meint er die unbegründete Eifersucht der Brüder, die sie
veranlassen könnte, ihrem Bruder Schaden zuzufügen und dadurch natürlich nicht nur Yusuf Leid
zufügen könnten, sondern auch Jakob selbst.

Warum hat Yusuf den Traum und nicht Jakob, wenn es doch Jakob ist, der ihn versteht? Yusuf gilt
als der Prophet, der Träume deuten kann, es sind aber immer die Träume anderer. Er deutet die
Träume seiner Mitgefangenen im Gefängnis, er deutet den Traum des Königs. Warum? Weil nur so
gewährleistet wird, dass die Botschaft nicht die Botschaft des eigenen Egos ist. Deswegen hat
Yusuf den Traum als Kind, lange bevor das eintritt, was er im Traum sieht. Hätte er den Traum in
dem Moment, in dem sich das alles ereignet, könnte man ihn nicht von einem normalen Traum, in
dem ein Mensch die Erlebnisse, die er hat, verarbeitet, unterscheiden.

Ein Traum von Gott muss immer losgelöst sein von den Ereignissen und/oder muss von anderen interpretiert werden, um
ihn von einem Traum, der lediglich den eigenen Gedanken entspringt, unterscheiden zu können.
Für mich ist z.B. Abrahams Traum ein Traum, der seinen eigenen Gedanken entspringt. Zur
Erinnerung: Abraham träumt immer wieder, dass er seinen eigenen Sohn opfert. Für mich steht
das in direktem Zusammenhang mit dem Trauma, das er selbst erlitten hat, als sein eigener Vater
ihn auf den Scheiterhaufen brachte. Abraham hatte die Götzen im Tempel zerstört und sein eigener
Vater verlangte als Strafe dafür, den Tod durch Verbrennen. Nur durch ein Wunder konnte
Abraham dem Tod entrinnen. Gott hatte dem Feuer befohlen, kühl zu sein und Abraham überlebte.
Man kann davon ausgehen, dass sein Tod ein Opfer darstellen soll, mit dem man die erzürnten
Götter (die Götzen, die Abraham zerstört hatte) wieder versöhnlich stimmen wollte und als Beweis
seiner Liebe zu den Göttern das größte Opfer überhaupt erbringen wollte, nämlich seinen eigenen
Sohn.

Wie muss das auf Abraham gewirkt haben? Vom eigenen Vater auf den Scheiterhaufen gebracht zu
werden? Man muss davon ausgehen, dass dies ein schreckliches Trauma war, das ihn sein Leben
lang beschäftigt hat. Und nun hat er selbst einen Sohn und die Erinnerungen plagen ihn und er
sieht, wie er Gott seinen eigenen Sohn opfert als Beweis seiner uneingeschränkten Liebe. Doch
Gott wird ein zweites Mal den Tod des Sohnes verhindern. Der Traum war also keine Voraussagung.
Er bewahrheitet sich nicht, anders als der Traum von Yusuf und der Traum des Königs z.B.
Abrahams Traum entsprang seiner eigenen Gedankenwelt, trat auf in Folge der Verarbeitung des
traumatischen Erlebnisses mit seinem eigenen Vater.

Ein Traum, der eine Voraussagung ist jedoch, erfolgt entweder losgelöst von den Ereignissen, von
denen er handelt oder kann nur von einer Person gedeutet werden, die mit diesen Ereignissen
nichts zu tun hat, nicht emotional daran gebunden ist und somit keine eigenen Gedanken
miteinbaut, gedeutet werden.

7 Wahrlich, in Yusuf und seinen Brüdern sind Zeichen für diejenigen, die (nach der Wahrheit)
fragen.
8 Als sie sagten: „Wahrlich, Yusuf und sein Bruder sind unserem Vater lieber als wir, obwohl wir
eine (ansehnliche) Schar sind. Unser Vater befindet sich fürwahr in deutlichem Irrtum.
9 Tötet Yusuf oder werft ihn ins Land hinaus, so wird das Gesicht eures Vaters sich nur noch euch
zuwenden, und danach werdet ihr rechtschaffene Leute sein.“
10 Einer von ihnen sagte: „Tötet Yusuf nicht, sondern werft ihn in die verborgene Tiefe des
Brunnenlochs, so werden ihn schon einige der Reisenden auflesen, wenn ihr doch etwas tun
wollt.“

Zu Vers 7 habe ich in den klassischen Kommentaren nichts gefunden. Ich persönliche verstehe den
Vers so, dass die Bedeutung der Geschichte sich nur denjenigen erschließt, die ein echtes Interesse
daran haben, den Glauben zu vertiefen. Es sind diejenigen, die nachfragen, die Interesse zeigen,
die mehr erfahren möchten. Diesen Menschen offenbart sich die Bedeutung der Geschichte. Für
die anderen hat sie außer ihrem Unterhaltungswert nichts zu bieten.

Die nächsten Verse offenbaren den Irrtum der Brüder in seiner ganzen Deutlichkeit. Der Koran
erwähnt an mehreren Stellen, dass die Herzen der Ungläubigen krank sind. Und so sind die Brüder
von Yusuf. Ihre Gefühlswelt ist total verquer. Alles scheint sich bei ihnen ins Gegenteil gekehrt zu
haben. Sie meinen, ihr Väter befände sich in einem Irrtum, weil er Yusuf und seinen jüngeren
Bruder (Benjamin) lieber hat als sie, obwohl sie doch zahlreicher sind. Aber für einen Vater gibt es
ja nichts Schlimmeres als eine Schar potentieller Mörder seine Söhne zu nennen. Jakob hat schon
längst erkannt, dass sie keinen guten Charakter haben. Nicht die Anzahl ist es, auf die es ankommt,
sondern der Charakter. Ein guter Sohn ist besser als zehn Verbrecher. Dann meinen sie, sie könnten
die Liebe ihres Vaters zurückgewinnen, indem sie Yusuf töten. Sie begreifen nicht, dass sie ihren
Vater in den größten Kummer werfen, wenn sie ihm das Liebste nehmen.

Und ist es wirklich echte Liebe, echte Zuneigung zu ihrem Vater, die sie antreibt? Sind sie wirklich
bekümmert und niedergeschlagen, ob der Tatsache, dass ihr Vater Yusuf und Benjamin angeblich
bevorzugt? Liegt nicht eher Eifersucht und Neid, verletzte Eitelkeit, verletzter Stolz (wir sind eine
stattliche Zahl und die sind nur zu zweit, wir haben es verdient, von unserem Vater geliebt zu
werden und nicht die beiden) vor? Wissen sie überhaupt, was Liebe ist? Wenn jemand wirklich
liebt, wenn jemand wirklich aufrichtig die Liebe eines anderen Menschen gewinnen will, ermordet
er dann einen Menschen, der dem anderen sehr nahe steht? Geht es hier nicht vielmehr und ein
Habenwollen, ein Anspruchsdenken, das dem eigenen Ego entspringt?

In den vorangegangenen Versen 4 und 5 erleben wir das vertrauliche Zwiegespräch zwischen Yusuf
und seinem Vater. Es ist von Zärtlichkeit geprägt und von Zuneigung und Vertrauen. Yusuf spricht
seinen Vatermit“O mein Vater“ (ya Abati) an und Jakob antwortet mit dem arabischen Diminutiv
für Sohn. Er sagt also „mein Söhnchen, mein Kindchen“ (ya bunayya) . Das ist eine liebevolle
Ausdrucksweise. Sie veranschaulicht das innige Verhältnis zwischen Vater und Sohn.
Und welcher Sprache bedienen sich die Brüder? Sie verwenden Imperative: Tötet ihn! Werft ihn
aus dem Land hinaus! Das ist herzlos und brutal.
Sie halten ihren Vater für einen verwirrten Mann. „Wie kann er nur ignorieren, dass wir mehr
sind?“ Das klingt abfällig, lieblos.

Sie denken nach dieser Bluttat auf rechtschaffen switchen zu können. Dieser eine Mord (am
eigenen Bruder wohlgemerkt) nur und DANN sind wir rechtschaffene Leute. Dadurch
bagatellisieren sie ihre geplante Tat auf extreme Weise. Der Mord wird zwar irgendwo von ihnen
als Sünde eingestuft, ist aber aus ihrer Sicht nichts, was sie daran hindern könnte, hinterher
rechtschaffene Menschen zu sein. Dieser Einblick in ihre Gedankenwelt offenbart, dass sie ein
völlig falsches Verständnis von Recht und Unrecht, Rechtschaffenheit und Sünde haben.
Sie erinnern an die Menschen, die in Sure 2, Verse 11 und 12 beschrieben werden:

11 Und wenn man zu ihnen sagt: „Stiftet nicht Unheil auf der Erde!“ sagen sie: „Wir sind ja nur
Heilstifter“.
12 Dabei sind doch eben sie die Unheilstifter, nur merken sie nicht.

Einen von ihnen beschleichen am Ende doch noch ein paar Zweifel, sodass Yusuf nicht ermordet
wird, sondern NUR in einem Brunnen ausgesetzt wird, was letztendlich fast genauso schlimm ist,
denn wer garantiert denn überhaupt, dass Reisende vorbeikommen und Yusuf aus dem Brunnen
holen? Ibn Kathir schreibt dazu, dass es Gottes Plan war, Yusuf zu einem mächtigen Mann in
Ägypten zu machen, weswegen der Tod Yusufs zwingend verhindert werden musste. Dass ein
Bruder also vorschlug, vom Mord abzusehen und Yusuf stattdessen in den Brunnen zu werden,
geht für ihn auf eine Eingebung Gottes zurück.

Ergänzungen aus der Bibel: Yusuf und sein jüngerer Bruder sind die jüngsten Kinder Jakobs. Ihre
Mutter ist Rachel. Jakob liebt die Jungen besonders, weil sie ihm im hohen Alter noch geschenkt
wurden. Laut Bibel sind die Halbbrüder Yusufs deswegen eifersüchtig, weil Jakob ihm ein schönes
buntes Gewand schenkt.

11 Sie sagten: „O unser Vater, warum vertraust du uns Yusuf nicht an? Wir werden ihm wahrlich
aufrichtig zugetan sein.
12 Sende ihn morgen mit uns, daß er Spaß und Spiel finde; wir werden ihn fürwahr behüten.“
13 Er sagte: „Es macht mich fürwahr traurig, daß ihr ihn mitnehmt. Und ich fürchte, daß ihn der
Wolf frißt, während ihr seiner unachtsam seid.“
14 Sie sagten: „Wenn ihn der Wolf fressen sollte, wo wir doch eine (ansehnliche) Schar sind, dann
wären wir fürwahr Verlierer.“

Suspense – der Leser/Zuhörer weiß mehr als unser Protagonist Jakob.

„Bitte Jakob, lass ihn nicht mit ihnen gehen. Jakob, folge deiner inneren Stimme. Du hast ihr
wahres Ich doch längst erkannt. Du denkst, sie lassen ihn alleine und warten, bis der Wolf kommt.
Du denkst, sie wollen sich nicht ihre eigenen Hände schmutzig machen. Doch die Wirklichkeit
übertrifft deine Vermutungen. Sie werden selbst Hand anlegen, an ihrem eigenen Bruder. Es ist
beschlossene Sache. Er soll verschwinden! SIE sind der Wolf! Hüte dich vor ihnen! Ihre süßen
unschuldigen Worte sind gelogen! Nichts von all dem, was sie dir zusäuseln, stimmt. Sie tragen
Masken, sie verbergen düsteren Absichten. Sie halten dich für einen alten verwirrten Mann, der
ihre Machenschaften nicht durchschaut. Sie wollen dir das wegnehmen, was dir das Liebste ist. Der
Teufel hat sie in seiner Hand. Der Teufel hasst Adam. Er hat sich geschworen, dass er ihm auflauern
wird, ihn in die Hölle bringen wird. Die Brüder hassen Yusuf. Er soll verschwinden, nie wieder Teil
der Familie sein. Der Teufel hat einen Plan. Er lockt Adam und Eva mit falschen Versprechen zum
verbotenen Baum. Er verführt sie mit süßen Worten, um ihnen dann, wenn sie sich ihm
anvertrauen, die Kleider zu entreißen und sie zu demütigen und zu entblößen. Deine Söhne haben
einen Plan. Sie zeigen sich dir von ihrer liebsten Seite, versprechen dir, auf Yusuf aufzupassen und
dann, wenn du ihn mit ihnen ziehen lässt, werden sie ihn in den Brunnen werfen.
Yusuf, die Sonne in deinem Leben, das Kind des Lichts, deine Freude. Lass ihn nicht mit ihnen
gehen. Wenn er geht, bleibt nur noch Dunkelheit.“

35: 8 Soll denn derjenige, dem sein böses Tun ausgeschmückt wird und der es dann für schön
befindet, (wie jemand sein, der rechtgeleitet ist)?

Jakob gibt nach.

15 Als sie ihn mitnahmen und sich geeinigt hatten, ihn in die verborgene Tiefe des Brunnenlochs zu
stecken, gaben Wir ihm ein: „Du wirst ihnen ganz gewiss noch diese ihre Tat kundtun, ohne dass sie
merken.“
16 Und am Abend kamen sie weinend zu ihrem Vater.
17 Sie sagten: „O unser Vater, wir gingen, um einen Wettlauf zu machen, und ließen Yusuf bei
unseren Sachen zurück. Da fraß ihn der Wolf. Aber du glaubst uns wohl nicht, auch wenn wir die
Wahrheit sagen.“
18 Sie brachten falsches Blut auf seinem Hemd. Er sagte: „Nein! Vielmehr habt ihr selbst euch
etwas eingeredet. (So gilt es,) schöne Geduld (zu üben). Gott ist derjenige, bei dem Hilfe zu suchen
ist gegen das, was ihr beschreibt.“

Jetzt sitzt Yusuf in der Tiefe des Brunnens. Sie haben ihm das Hemd ausgezogen. Warum? Was
haben sie damit vor? Ob er ihre Gespräche gehört hat? Ob er jetzt weiß, dass eigentlich sein Tod
geplant war? Ob er weiß, dass sie planen, dem Vater zu sagen, der Wolf habe ihn gefressen? Ob er
weiß, dass sie beschließen, das Hemd mit Tierblut zu tränken, um damit den Vater zu täuschen?
Abgeschnitten sein, hilflos sein, machtlos sein, ausgeliefert sein. Niemand ist da, der ihn sieht, der
ihn hört, der ihm hilft. Vielleicht kommen bald Reisende vorbei, vielleicht aber auch nicht.
Eine Erinnerung kommt hoch: der Traum. Elf Sterne und die Sonne und den Mond werfen sich vor
ihm nieder.

Was hatte der Vater gesagt? Nichts davon den Brüdern erzählen, da sie sonst eine List
schmieden würden? Eine Hoffnung keimt auf. Sein Schicksal annehmen, hoffen, geduldig sein.
Die Brüder indessen führen ihren Plan bis zuletzt in erschreckender Kaltblütigkeit durch. Wirklich
clever sind sie nicht. Es ist ihnen noch nicht einmal eine gelungene Ausrede eingefallen. In ihrer
Dumpfheit übernehmen sie den „Vorschlag“ des Vaters: der Wolf hat ihn gefressen. Lücken in der
Beweisführung werden geflissentlich ignoriert. Sie schlachten ein Tier und tränken sein Hemd mit
dem Blut und fertig ist der „Beweis“. Wo ist der Leichnam? Warum ist das Hemd nicht zerrissen?
Der Wolf hat sich die Mühe gemacht, Yusuf auszuziehen, bevor er ihn fraß? Jakob glaubt ihnen
kein Wort.

„Aber du glaubst uns wohl nicht, auch wenn wir die Wahrheit sagen.“
Die Wahrheit würde Jakob sofort glauben.

Eine Erinnerung kommt hoch: der Traum. Elf Sterne und die Sonne und den Mond werfen sich vor
Yusuf nieder. Eine Hoffnung keimt auf. Sein Schicksal annehmen, hoffen, geduldig sein.
Vater und Sohn in die Finsternis gefallen.
Vater und Sohn von nun an getrennt. Gedanken steigen auf zum Himmel, Erinnerungen,
Erinnerungen an ein vertrauliches Zwiegespräch. Sie werden zur unsichtbaren Brücke zwischen
Vater und Sohn.

Ibn Kathir berichtet, dass sich Jakob mit einer Umarmung und einem Kuss von Yusuf verabschiedet
hätte. Sobald der Vater aus dem Blickfeld verschwunden war, fingen die Brüder an, Yusuf zu
beschimpfen, zu schlagen, zu verfluchen. Als sie zu dem Brunnen kamen, banden sie ihn an ein Seil
und ließen ihn hinab. Yusuf flehte sie an, ihn wieder herauszuholen. Sie schlugen und
beschimpften ihn. Dann schnitt einer das Seil durch und Yusuf fiel ins Wasser und tauchte unter. Es
gelang ihm, sich auf einen Stein zu stellen und dort stand er dann, bis die Reisenden ihn fanden.
Gott gab ihm ein, dass er seinen Brüdern eines Tages zeigen würde, was sie ihm angetan hatten.
Dies tat Gott aus Mitleid mit ihm, um ihn zu trösten und ihm Hoffnung zu geben.

19 Reisende kamen vorbei. Sie sandten ihren Wasserschöpfer, und er ließ seinen Eimer hinunter. Er
sagte: „O frohe Botschaft! Da ist ein Junge.“ Sie verbargen ihn als Ware. Und Gott wusste wohl,
was sie taten.
20 Und sie verkauften ihn für einen zu niedrigen Preis, einige gezählte Dirhams. Und sie übten
Verzicht in Bezug auf ihn.
21 Und derjenige aus Ägypten, der ihn gekauft hatte, sagte zu seiner Frau: „Bereite ihm einen
gastfreundlichen Aufenthalt. Vielleicht wird er uns nützlich sein, oder nehmen wir ihn als Kind an.“
So verliehen Wir Yusuf eine feste Stellung im Land. Und Wir wollten ihn etwas von der Deutung der
Geschichten lehren. Und Gott ist in Seiner Angelegenheit überlegen. Aber die meisten Menschen
wissen nicht.
22 Als er seine Vollreife erlangt hatte, gaben Wir ihm Urteil(skraft) und Wissen. So vergelten Wir
den Gutes Tuenden.

Laut Ibn Kathir blieben die Brüder den Rest des Tages in der Nähe des Brunnens, um abzuwarten,
was passieren würde. Gott schickte die Karawane zum Brunnen. Sie schlugen ihre Zelte auf und
schickten ihren Wasserträger zum Brunnen. Dieser ließ den Eimer hinunter, Yusuf hielt sich daran
fest und wurde hochgezogen. Der Wasserschöpfer war erstaunt und erfreut, einen Jungen
hochzuziehen, denn der ließe sich auf dem Sklavenmarkt gut verkaufen.

Die Brüder waren anwesend. Sie schwiegen. Sie verheimlichten also, dass der Junge ihr Bruder war und Yusuf
schwieg auch aus Angst, der Wasserschöpfer würde ihn seinen Brüdern überlassen und sie würden
ihn nun tatsächlich ermorden. Gott hingegen kannte die ganze Wahrheit. Warum also griff er nicht
ein? Ibn Kathir schreibt, weil Gott auch einen Plan hatte und dieser Plan umgesetzt werden
musste. Meine Meinung dazu ist die, dass Gott nicht eingriff, weil der Mensch nur durch eigene
Erfahrung lernt. Die Brüder werden am Ende der Geschichte erkennen, dass sie sich falsch
verhalten haben. Sie wären nicht zu dieser Erkenntnis gelangt, wenn Gott sich ständig
„eingemischt“ hätte. Außerdem mischt sich Gott ja auch ein. Er beschützt Yusuf. Er gibt ihn immer
in die Obhut von Menschen, die ihm helfen und ihn retten.

Zurück zu den Erläuterungen von Ibn Kathir. Für die Leute der Karawane war Yusuf nur ein Junge,
Ware ohne großen Wert. Kein starker kräftiger Mann, der für schwere Arbeiten eingesetzt werden
konnte, kein gebildeter Mann, der für administrative Tätigkeiten hätte eingesetzt werden konnte.
Nur ein Junge, brauchbar lediglich für leichter Tätigkeiten. Sie verkauften ihn für ein paar lumpige
Dirham, für einen armseligen Preis. Sie verkannten seinen wahren Wert gänzlich. Er wird später in
Ägypten der Verwalter der Schatzkammern sein und er wird ein sehr weiser kluger Verwalter sein.
Und er ist Prophet. Auch seine Brüder verkannten letztlich seinen wahren Wert. Wenn sie ihn auf
dem Sklavenmarkt verkauft hätten, hätten sie ihn noch für einen weitaus geringeren Wert
hergegeben, ja vielleicht sogar verschenkt. Hauptsache, weg.

Yusuf kommt nach Ägypten, zu einem wohlhabenden, angesehenen Mann mit hoher Stellung.
Sein Titel war „Aziz“. Aziz bedeutet „mächtig“. Er wird Yusuf nicht für niedrige Arbeiten
missbrauchen. Der Junge soll es bei ihnen gut haben. Im Arabischen steht akrimi mathwahu. Das
kann man auch mit „einen ehrwürdigen Aufenthalt bereiten“ übersetzen. Gemeint ist, dass Yusuf
Wertschätzung erfahren soll und mit Respekt aufgenommen werden soll. Sogar die Überlegung
einer Adoption steht schon im Raum. Yusuf hat Jakob verloren und den Aziz gewonnen. Er ist
wieder in der Obhut eines Mannes, der es gut mit ihm meint, der ihn beschützt, der ihn fördert,
der ihn richtig schätzt. Seine eigenen Brüder verachteten ihn, wollten ihn loswerden, steckten ihn
in einen Brunnen und dieser Fremde hier bereitet ihm einen ehrwürdigen Aufenthalt, begegnet
ihm mit Wertschätzung und überlegt sogar, ihn zu adoptieren.

Gott führt die Menschen zusammen. Unter dem Schutz des Aziz entwickelt sich Yusuf prächtig.
Man muss davon ausgehen, dass er beim Aziz eine gute Erziehung erhält, unterrichtet wird, in die
ägyptische Lebensart eingewiesen wird. Diesen Teil leistet der Aziz. Und Gott verleiht ihm die
Kenntnis über die Traumdeutung, Weisheit und Wissen.
Gutes als Entlohnung für Gutes.

Nun ist Yusuf in Ägypten und er wird am Ende seine Eltern und seine Brüder nach Ägypten holen
und die Israeliten werden sich in Ägypten ansiedeln. Im Laufe der Zeit werden die Israeliten von
den Ägyptern versklavt und ein anderer Prophet, nämlich Moses, wird sie wieder aus Ägypten
herausführen.

Wenn man nun beide Prophetengeschichten miteinander vergleicht, kommt man nicht umhin,
gewisse Parallelen zu erkennen.
Auch die Geschichte von Moses beginnt damit, dass eine Ermordung geplant wird. Aus Angst vor
einem Erstarken der Israeliten und aus Furcht vor einem Aufstand gegen die ägyptischen
Sklavenhalter befiehlt Pharao, alle neugeborenen Söhne der Hebräer zu töten. Es ist also die Furcht
um die eigene Stellung, um die eigene Macht, die hier zum Motiv für den Mord wird. Auch hier ist
es letztendlich ein (zukünftiges) Familienmitglied, von dem die Gefahr ausgeht. Pharao wird später
der Adoptivvater von Moses.

So wie Yusuf wird auch Moses nicht ermordet. Die Ermordung wird letztendlich durch eine Fügung
Gottes vereitelt. Im Falle von Yusuf gibt Gott dem einen Bruder ein, Yusuf stattdessen in einen
Brunnen zu werfen. Und der Mutter von Moses gibt Gott ein, sie solle ihn im Nil aussetzen.
Beide landen im Wasser. Yusuf im Brunnen und Moses im Nil.

Vorausgesetzt Ibn Kathir hat recht: als Yusuf aus dem Brunnen gezogen wird, sind seine Brüder
anwesend und verheimlichen seine Identität. Als Moses aus dem Nil gezogen wird, ist seine
Schwester anwesend und verheimlicht seine Identität.

Sowohl Jakob als auch die Mutter von Moses trauern um ihr verloren geglaubtes Kind. Sie können
nicht mehr aufhören, um ihr Kind zu weinen. Jakobs Augen werden davon schlecht werden. Doch
beiden deutet Gott an, dass das Kind errettet wird. Jakob erinnert sich an den Traum und dieser
Traum hält seine Hoffnung am Leben. Und die Mutter von Moses erhält ihren Säugling zurück, um
ihn zu stillen, ganz offiziell, und Pharao und seine Frau ahnen nichts von den verwandtschaftlichen
Verhältnissen.

Sowohl Yusuf als auch Moses verlassen als Kinder ihre Familien und wachsen bei Adoptiveltern auf,
bei Eltern, die einem anderen Kulturkreis zugeordnet sind, bei Eltern, die nicht an den Gott der
Väter glauben. Beide wachsen im Wohlstand auf und erhalten eine gute Erziehung und Ausbildung.
Ein Elternteil ist gut, das andere schlecht. Im Falle von Yusuf ist es der Adoptivvater, der ihn
beschützt, ihn fördert, zu ihm steht, während die Adoptivmutter gefährlich wird, im Falle von
Moses ist es die Adoptivmutter, die ihn beschützen wird und zu ihm stehen wird, während der
Adoptivvater zu einer Gefahr für ihn werden wird.

Yusuf wird später falschlicherweise bezichtigt, seine Adoptivmutter belästigt zu haben. Er wird
freiwillig ins Gefängnis gehen. Moses tötet im Affekt einen Ägypter und muss aus Ägypten fliehen.
Er landet in der Wüste, als mittelloser Fremder, und muss seinen Lebensunterhalt als Hirte
bestreiten.

Im Gefängnis/in der Wüste reifen beide heran, ihre Lebensaufgabe wird nun deutlich. Yusuf wird
zum Traumdeuter, Moses erhält den Auftrag, das Volk Israel zu befreien. Beide kommen zum
König/Pharao. Yusuf als loyaler Diener und Verwalter der Schatzkammern, Moses als politischer
Gegner und als Befreier der Israeliten.
Beide stellen ihre Fähigkeiten unter Beweis. Yusuf deutet den Traum des Königs, Moses tritt gegen
die ägyptischen Zauberer an.

Im entscheidenden Moment steht ihnen der Bruder zur Seite. Ein verlässlicher Bruder, der
kooperiert. Yusuf und Benjamin und Moses und Harun.
Die wahre Identität des Protagonisten wird an einem entscheidenden Moment offengelegt und die
Feinde erkennen, dass das, was sie eigentlich verhindern wollten, eingtreten ist bzw. übertroffen
wurde. Yusuf nimmt seinen alten Vater in den Arm und Moses führt die Israeliten aus Ägypten.

23 Und diejenige, in deren Haus er war, versuchte, ihn zu verführen‘. Sie schloss die Türen ab und
sagte: „Da bin ich für dich!“ Er sagte: „Gott schütze mich (davor)! Er, mein Herr, hat mir einen
schönen Aufenthalt bereitet. Gewiss, den Ungerechten wird es nicht wohl ergehen.“
24 Es verlangte sie nach ihm, und es hätte ihn nach ihr verlangt, wenn er nicht den Beweis seines
Herrn gesehen hätte. Dies (geschah), damit Wir das Böse und das Schändliche von ihm
abwendeten. Er gehört ja zu Unseren auserlesenen Dienern.
25 Sie versuchten beide als erster zur Tür zu gelangen. Sie zerriss ihm von hinten das Hemd. Und
sie fanden ihren Herrn bei der Tür vor. Sie sagte: „Der Lohn dessen, der deiner Familie Böses
(antun) wollte, ist nur, daß er ins Gefängnis gesteckt wird, oder schmerzhafte Strafe.“
26 Er sagte: „Sie war es, die versucht hat, mich zu verführen.“ Und ein Zeuge aus ihrer Familie
bezeugte: „Wenn sein Hemd vorn zerrissen ist, dann hat sie die Wahrheit gesprochen, und er
gehört zu den Lügnern.
27 Wenn sein Hemd aber hinten zerrissen ist, dann hat sie gelogen, und er gehört zu den
Wahrhaftigen.“
28 Als er nun sah, dass sein Hemd hinten zerrissen war, sagte er: „Das gehört zu euren Listen. Eure
List ist gewaltig.“
29 Yusuf, lasse davon ab! Und (du, jene,) bitte um Vergebung für deine Sünde! Du gehörst ja zu
denjenigen, die Verfehlungen begangen haben.“

Die Frau, die zuvor gebeten wurde, ihn respektvoll aufzunehmen und zu behandeln, ausgerechnet
sie versucht nun, ihn zu verführen. Sie bringt ihn wieder in eine aussichtslose Lage, indem sie die
Türen schließt. Er ist wieder in der Hand eines anderen Menschen. Im selben Satz wird auch klar
zum Ausdruck gebracht, warum diese Tat schlecht wäre. Es wäre ein Verrat an dem Manne, der
Yusuf wie einen eigenen Sohn aufgezogen hat. Also nicht das Begehren als solches wird
angeprangert, sondern der Verrat und der Vertrauensmissbrauch an dem Aziz, der damit
einherginge.

Anders als die Brüder hat die Frau erstens keinen Plan, sie ist halt einfach nur verliebt und erliegt
ihren Gefühlen, und zweitens will sie niemandem bewusst schaden, sie nimmt die Verletzung
anderer allerdings in Kauf.

Auch Yusuf begehrt sie und es bedarf einer moralischen Stärkung durch Gott, um ihn davon
abzuhalten. Ein Verhältnis zwischen den beiden hätte die Familie unweigerlich zerstört. Es hätte
das Vertrauensverhältnis zu seinem Adoptivvater für immer zerstört. Yusuf hätte ein zweites Mal
seine Familie verloren. Die Tat hätte also weitreichende leidvolle Konsequenzen für alle Beteiligten
bedeutet. Und deswegen musste sie verhindert werden und deswegen griff Gott an der Stelle
wieder ein und gab Yusuf ein Zeichen, um ihm die Kraft zu geben, dem Werben seiner
Adoptivmutter standhalten zu können. Im arabischen Text steht für begehren das Verb
hamma bi. Dieses Verb bezeichnet ein Verlangen, an das auch Gefühle geknüpft sind. Es war
also kein rein sexuelles Verlangen, sondern die beiden empfanden auch aufrichtige Gefühle
füreinander. Wenn es um ein rein sexuelles Verlangen geht, wird im Koran von schahwa
gesprochen, z.B. auch im Zusammenhang mit dem Volk von Lot.

Also läuft er vor ihr weg, sie ihm hinterher, an der Tür treffen die beiden aufeinander und just in
dem Moment kommt der Aziz hinzu. Dass die Frau nun Yusuf des sexuellen Übergriffs, der
versuchten Vergewaltigung bezichtigt, ist reiner Selbstschutz. Wir wissen nicht, was es für sie
bedeutet hätte, wenn sie des Ehebruchs angeklagt worden wäre. Vielleicht hätte es dramatische
Konsequenzen für sie gehabt. Yusuf weist die Anschuldigung von sich. Es steht Wort gegen Wort.
Der Aziz ist ein sehr vernünftiger erfahrener Mann. Er hat zwar einen leisen Verdacht, will aber
unvoreingenommen sein und die Wahrheit herausfinden. Es gibt einen Beweis: das Hemd.

Ein Zeuge wird konsultiert. Auch dieser Zeuge ist gewissenhaft und sachlich. Er fällt sein Urteil
aufgrund der Beweislage. Das Hemd ist hinten zerrissen, also ist Yusuf vor ihr weggelaugen. Wäre
es vorne zerrissen gewesen, hätte es bedeutet, dass er versucht hätte, sie in seine Gewalt zu
bekommen und sie sich gewehrt hätte. Der Täter wurde ermittelt. Der Verdacht des Aziz‘ bestätigt
sich, denn er sagt zu ihr: „Das gehört zu euren Listen. Eure List ist gewaltig.“ Er muss also in der
Vergangenheit die Erfahrung gemacht haben, dass seine Frau und ihre Freundinnen ihn angelogen
haben, sonst würde diese Bemerkung keinen Sinn machen. Er hat ihren wahren Charakter schon
längst erkannt, so wie auch Jakob den wahren Charakter der Brüder erkannt hatte und Yusuf
gewarnt hatte, den Brüdern nichts vom Traum mitzuteilen, da sie sonst eine List gegen ihn
schmieden würden.

In ihrem Buch „Der politische Harem“ beschreibt die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi,
dass sie als Kind oft diesen Satz „Eure List ist gewaltig.“ zu hören bekam. Man muss dazu wissen,
dass das Pronomen im arabischen Text sich eindeutig ausschließlich auf Frauen bezieht. Eine
korrekte Übersetzung wäre demnach also: „Ihr Frauen, Eure List ist gewaltig.“ Der Vers ist
allerdings in keinster Weise so zu verstehen, dass alle Frauen verlogen wären. Es bezieht sich
eindeutig auf die Frau des Aziz uns ihre Freundinnen. Denen wird sie später Yusuf vorstellen und
sie werden ebenso für ihn entflammen und versuchen, ihn zu verführen, aber es zeigt, mit welche
frauenfeindlicher Brille der Koran gelesen wurde und gewisse Verse bewusst herausgefiltert
wurden.

Der Aziz ist ein umsichtiger Mann. Er weiß nun, was geschehen ist, bzw. dass letztendlich nichts
geschehen ist und dass er nicht fürchten muss, dass sein eigener Adoptivsohn ihn mit seiner Frau
betrügen wird. Also, Schwamm drüber. Er bittet Yusuf, nichts über den Vorfall verlauten zu lassen
(Yusuf, lasse davon ab!) und ermahnt seine Frau, die ganz eindeutig diejenige ist, die sich falsch
verhalten hat, um Vergebung für ihre Sünden zu bitten.

30 (Einige) Frauen in der Stadt sagten: „Die Frau des hohen Herrn versucht, ihren Burschen zu
verführen. Er hat sie in leidenschaftliche Liebe versetzt. Wir sehen wahrlich, sie befindet sich in
deutlichem Irrtum.“
31 Als sie nun von ihren Ränken hörte, sandte sie zu ihnen und bereitete ihnen ein Gastmahl‘. Sie
gab einer jeden von ihnen ein Messer und sagte (zu Yusuf): „Komm zu ihnen heraus.“ Als sie ihn
sahen, fanden sie ihn groß(artig), und sie zerschnitten sich ihre Hände und sagten: „Gott behüte!
Das ist kein Mensch, das ist nur ein ehrenvoller Engel.“
32 Sie sagte: „Seht, das ist der, dessentwegen ihr mich getadelt habt. Ich habe allerdings versucht,
ihn zu verführen, doch er widerstand. Und wenn er nicht tut, was ich ihm befehle, wird er ganz
gewiß ins Gefängnis gesteckt werden, und er wird gewiß zu den Geringgeachteten gehören.“
33 Er sagte: „Mein Herr, das Gefängnis ist mir lieber als das, wozu sie mich auffordern. Und wenn
Du ihre List von mir nicht abwendest, werde ich mich zu ihnen hingezogen fühlen und zu den Toren
gehören.“
34 Da erhörte ihn sein Herr und wendete ihre List von ihm ab. Er ist ja der Allhörende und
Allwissende.
35 Hierauf schien es ihnen angebracht, nachdem sie die Zeichen (seiner Unschuld) gesehen hatten,
ihn für eine gewisse Zeit ins Gefängnis zu stecken.
Und wie das so ist mit solchen Geheimnissen, es dauert nicht lange, bis sie das Stadtgespräch sind.
Übrigens, die richtige Version geht um. Also die Version, wonach sie es war, die ihn verführen
wollte.

Ibn Kathir schreibt, dass die Frauen letztendlich alle neugierig auf Yusuf waren. Wie kann es sein,
dass so ein Bürschchen die Frau des Aziz‘ in leidenschaftliche Liebe versetzt? Sie ist ja völlig
verwirrt, wenn sie sich in einen jungen Kerl wie ihn verliebt. Das sagen sie absichtlich, denn sie
wollen damit provozieren, dass sie sie einlädt und ihnen Yusuf vorstellt, was sie ja auch dann
tatsächlich macht. Aber ist das wirklich klug? Die Gerüchteküche ist jetzt schon am Brodeln. Wäre
es nicht vernünftiger, zu schweigen anstatt die Gerüchte zu nähren?

Sie bereitet ein wunderschönes Gastmahl vor. Sie serviert etwas, wozu man Messer braucht,
möglicherweise Früchte, die geschält werden müssen. Das tut sie mit voller Absicht, denn sie geht
davon aus, dass die Frauen von Yusufs Schönheit so geblendet sein werden, dass sie sich aus
Versehen in die Hände schneiden. Und genau das passiert dann auch.

Die Schönheit Yusufs übertrifft ihre Erwartungen. Er ist kein menschliches Wesen, er ist ein Engel.
Sie können jetzt nachvollziehen, warum sie sich in ihn verliebt hat. Doch Yusuf ist nicht nur
äußerlich schön, nein, er hat auch einen guten Charakter, denn er hat ihrem Werben
widerstanden.

Und nun tritt ihr wahrer Charakter hervor. Er widerstand ihrem Werben, also versucht sie nun,
ihren Willen mit Gewalt durchzusetzen. Sie droht ihm das Gefängnis an, wenn er sich nicht gefügig
zeigt. Auch die eingeladenen Frauen unterstützen sie dabei und fordern ihn auf, ihr zu gehorchen.
Yusuf weiß nicht mehr, wie der dem entfliehen kann. Die Vorstellung, im Gefängnis zu sein, hat
weniger Schrecken für ihn als die Vorstellung, den Frauen weiterhin ausgeliefert zu sein. Die Frau
des Aziz‘ gefällt ihm auch und er fühlt sich zu ihr hingezogen. Er will diesen Gefühlen aber nicht
nachgeben, weil der Verrat an dem Aziz für alle eine Katastrophe wäre. Gott greift ein zweites Mal
ein und stärkt ihn innerlich, gibt ihm die Kraft, seinen Gefühlen nicht nachzugeben.

Interessant ist auch hier die Parallele zu „ersten“ Variante der Geschichte, also zur Geschichte der
Brüder und Yusuf. Die Brüder wollen letztendlich auch mit Gewalt die Liebe ihres Vaters erwirken,
so wie die Frau des Aziz‘ Yusufs Liebe mit Gewalt erzwingen will. Das ist natürlich die völlig falsche
Strategie und sie geht in beiden Fällen nicht auf.

Nun ist aber die Sache öffentlich geworden. Die eingeladenene Frauen wissen, dass es die Frau des
Aziz‘ ist, die Yusuf mit Gewalt verführen möchte. Aber genau das darf nicht sein. Sie ist sehr
bekannt, ihr Mann ein mächtiger Mann. Was für ein Skandal, wenn diese Geschichte die Runde
macht.

Also wird Yusuf mit seinem Einverständnis ins Gefängnis gesteckt, um den Anschein zu erwecken,
er sei der Schuldige, damit das Gerede endlich ein Ende nimmt. Allen Beteiligten ist jedoch klar,
dass Yusuf unschuldig ist. Und Yusuf ist nicht mehr den Machenschaften der Frauen ausgesetzt.
Interessant ist auch, dass die ägyptischen Frauen eine Vorstellung von Gott haben, denn sie rufen
bei Yusufs Anblick hascha lillahi aus, also Gott behüte. Im alten Ägypten, dem Ägypten der Götzen,
kannte man Gott?

36 Mit ihm kamen zwei Burschen ins Gefängnis. Der eine von ihnen sagte: „Ich sah mich Wein
auspressen.“ Der andere sagte: „Ich sah mich auf dem Kopf Brot tragen, von dem die Vögel fraßen.
Tue uns die Deutung hiervon kund. Wir sehen, daß du zu den Gutes Tuenden gehörst.“
37 Er sagte: „Es wird euch kein Essen gebracht, mit dem ihr versorgt werdet, ohne daß ich euch die
Deutung davon kundgetan habe, bevor es euch gebracht wird. Seht, das ist etwas von dem, was
mich mein Herr gelehrt hat. Verlassen habe ich das Glaubensbekenntnis von Leuten, die nicht an
Allah glauben, und (verlassen habe, ich) sie, die sie das Jenseits verleugnen,
38 und ich bin dem Glaubensbekenntnis meiner Väter Ibrahim, Ishaq und Ya’qub gefolgt. Es steht
uns nicht zu, Allah etwas beizugesellen. Das ist etwas von Allahs Huld gegen uns und gegen die
Menschen. Aber die meisten Menschen sind nicht dankbar.
39 O meine beiden Gefängnisgefährten! Sind verschiedene Herren besser oder Allah, der Eine, der
Allbezwinger?
40 Ihr dient außer Ihm nur Namen, die ihr genannt habt, ihr und eure Väter, für die Allah (jedoch)
keine Ermächtigung herabgesandt hat. Das Urteil ist allein Allahs. Er hat befohlen, daß ihr nur Ihm
dienen sollt. Das ist die richtige Religion. Aber die meisten Menschen wissen nicht.
41 O meine beiden Gefangnisgefährten! Was den einen von euch angeht, so wird er seinem Herrn
Wein zu trinken geben. Was aber den anderen angeht, so wird er gekreuzigt, und die Vögel werden
von seinem Kopf fressen. Entschieden ist die Angelegenheit, über die ihr um Auskunft fragt.“
42 Und er sagte zu dem von beiden, von dem er glaubte, daß er entkommen werde: „Erwähne
mich bei deinem Herrn.“ Aber der Satan ließ ihn vergessen, ihn bei seinem Herrn zu erwähnen,
(und) so blieb er noch einige Jahre im Gefängnis.

Im Gefängnis entwickelt sich nun Yusufs Fähigkeit, Träume zu deuten. Das spricht sich anscheinend
herum, möglicherweise haben sich manche Träume, die er gedeutet hat, auch bewahrheitet,
sodass man ihm vertraut, ihn als ehrlichen und selbstlosen Menschen schätzt. Immerhin wenden
sich die beiden Gefängnisinsassen an ihn mit den Worten „Wir sehen, dass du zu denjenigen
gehörst, die Gutes tun.“ Vergessen wir nicht, dass Yusuf im Gefängnis sitzt, offiziell ja wegen des
Vorwurfs einer Vergewaltigung. Sich da den Ruf eines rechtschaffenen Menschen zu erarbeiten, ist
nochmal schwieriger als im normalen Leben.

Laut Ibn Kathir stellt der Satz „Es wird euch kein Essen gebracht, mit dem ihr versorgt werdet, ohne
daß ich euch die Deutung davon kundgetan habe“ in Vers 37 eine Voraussagung dar sowie auch die
Träume eine Voraussagung der Zukunft darstellen. So wie er jetzt sagen kann, dass das Essen
gebracht werden wird, so wird sich das, was in den Träumen in einer Vorschau zu sehen ist, auch
bewahrheiten. Das bekräftigt er in Vers 41 noch einmal, als er sagt: „Entschieden ist die
Angelegenheit, über die ihr um Auskunft fragt.“ Die Dinge, die den Menschen in ihren Träumen
gezeigt wurden, werden tatsächlich später auch so eintreten. Das ist schon eine entschiedene
Sache.

Yusuf sieht in seiner Fähigkeit, Träume zu deuten, einen Segen Gottes. Es ist Gott, der ihn die
Traumdeutung gelehrt hat, und dass Gott ihm diese Fähigkeit gegeben hat, führt er darauf zurück,
dass er die Religion (millatun) derer, die nicht an Gott und an das Jenseits glauben, verlassen hat.
Das ist ein sehr interessanter Satz. Es gibt demnach Religionen, die nicht der Wahrheitsfindung
dienen, die nicht den Glauben an Gott und an das Jenseits in den Mittelpunkt stellen. Was dann?
Seine Religion hat noch gar keinen Namen, deswegen nennt er sie das Glaubensbekenntnis seiner
Väter (Vorfahren) Abraham, Isaak und Jakob. Es gibt noch kein Judentum, noch kein Christentum,
noch keinen Islam. Worauf stützt sich sein Glaube?

Er stützt sich in allererster Linie auf den Monotheismus. Es gibt keinen Gott außer Gott und es ist
falsch, Götzen zu verehren. Dies erkannt zu haben, bezeichnet er als Huld. Götzen sind
Schöpfungen der Menschen. Sie existieren nicht. Es sind nur Namen, Bezeichnungen, die sich
Menschen ausgedacht haben, sonst nichts. Für ihn ist der Monotheismus logisch. Hier wird der
Vergleich mit dem Diener und den verschiedenene Herren angeführt, der im Koran noch an
anderen Stellen gebracht wird. Wie kann ein Diener zwei Herren gleichzeitig dienen? Was, wenn
der eine Herr befiehlt, der Diener solle ins Haus gehen und der andere befiehlt, der Diener solle in
den Garten gehen? Was macht der Diener nun? Wem gehorcht er nun? Der Diener gerät in einen
Konflikt, für den es keine Lösung gibt. Er will es beiden Herren recht machen und genau das geht
nicht.

Man kann nicht gleichzeitig der Wahrheit und der Lüge/der Illusion dienen. Man kann nicht
gleichzeitig der Barmherzigkeit und der Gnadenlosigkeit dienen, man kann nicht gleichzeitig der
Gerechtigkeit und der Parteilichkeit dienen, mann kann nicht gleichzeitig der Treue und dem Verrat
dienen etc. Das eine schließt das andere aus.

Nun deutet Yusuf die Träume. Laut Ibn Kathir handelte es sich bei den beiden um Diener des
Königs, der eine sei der Bäcker des Königs und der andere sein Mundschenk gewesen. Dem einen
sagt er voraus, dass der aus dem Gefängnis kommen wird und zu seinem Herrn zurückgebracht
werden wird, dem anderen sagt er voraus, dass der hingerichtet werden wird. Laut Ibn Kathir
spricht er bewusst in der 3. Person Singular (er spricht die beiden also nicht direkt an, sondern
spricht über sie), um demjenigen, der hingerichtet werden wird, diese schlechte Botschaft nicht
direkt ins Gesicht sagen zu müssen. Er ist sich also der Schwere seiner Aussagen bewusst und
schafft es nicht, demjenigen, der hingerichtet werden wird, dabei in die Augen zu schauen.
Denjenigen, von dem er glaubt, dass er freikommt, bittet er, ihn bei seinem Herrn zu erwähnen.
Doch er vergisst es. Satan macht, dass er es vergisst. So nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem
Sinn.“ Für den Freigelassenen ist Yusuf nicht mehr von Bedeutung. Gerade eben noch hat er ihn
darum gebeten, seinen Traum zu deuten, gerade eben noch hat Yusuf ihm die frohe Botschaft
mitgeteilt, dass der freikommt und schon ist Yusuf so unwichtig für ihn geworden, dass er ihn noch
nicht einmal seinem Herrn gegenüber erwähnt.

„Hauptsache frei! Was kümmern mich meine Versprechen von vorhin! Was interessiert mich das
Schicksal des Mannes, den ich gebeten habe, meinen Traum zu deuten! Was interessiert es mich,
dass er, der rechtschaffene ehrliche Traumdeuter, noch ein paar Jahre im Gefängnis bleibt. Wichtig
ist, dass ich frei bin.“ Dergestalt sind die Einflüsterungen des „Satans“, also des eigenen Egos, das
nur sich selbst sieht und nur am eigenen Vorteil interessiert ist.

Für Yusuf bedeutet dies, dass er noch ein paar Jahren im Gefängnis bleiben wird.

43 Und der König sagte: „Ich sah sieben fette Kühe, die von sieben mageren gefressen wurden, und
sieben grüne Ähren und (sieben) andere dürre. O ihr führende Schar, gebt mir Auskunft über mein
(Traum)gesicht, wenn ihr ein (Traum)gesicht auslegen könnt.“
44 Sie sagten: „(Das ist) ein Bündel von wirren Träumen. Wir wissen über die Deutung der Träume
nicht Bescheid.“
45 Derjenige von beiden, der entkommen war und sich nach einiger Zeit erinnerte, sagte: „Ich
werde euch seine Deutung kundtun. Darum entsendet mich.“
46 „Yusuf, du Wahrhaftiger, gib uns Auskunft über sieben fette Kühe, die von sieben mageren
gefressen werden, und über sieben grüne Ähren und (sieben) andere dürre, auf daß ich zu den
Leuten zurückkehre, auf daß sie wissen mögen.“
47 Er sagte: „Ihr werdet unablässig sieben Jahre wie gewohnt säen. Was ihr erntet, das laßt in
seinen Ähren, bis auf ein weniges, wovon ihr eßt.
48 Hierauf werden nach alledem sieben harte (Jahre) kommen, die das aufzehren werden, was ihr
für sie vorbereitet habt, bis auf ein weniges von dem, was ihr aufbewahrt.
49 Hierauf wird nach alledem ein Jahr kommen, in dem die Menschen Regen haben und in dem sie
(Früchte) auspressen werden.“
50 Der König sagte: „Bringt ihn zu mir.“ Als der Bote zu ihm kam, sagte er: „Kehr zu deinem Herrn
zurück und frag ihn, wie es mit den Frauen steht, die sich ihre Hände zerschnitten. Mein Herr weiß
doch über ihre List Bescheid.“
51 Er sagte: „Was war da mit euch, als ihr versuchtet, Yusuf zu verführen?“ Sie sagten: „Allah
behüte! Wir wissen nichts Böses gegen ihn (anzugeben).“ Die Frau des hohen Herrn sagte: „Jetzt ist
die Wahrheil ans Licht gekommen. Ich habe versucht, ihn zu verführen. Und er gehört fürwahr zu
den Wahrhaftigen.
52 Dies ist, damit er weiß, daß ich ihn nicht in seiner Abwesenheit verraten habe und daß Allah die
List der Verräter nicht gelingen läßt.
53 Und ich spreche mich nicht selbst frei. Die Seele gebietet fürwahr mit Nachdruck das Böse,
außer daß mein Herr Sich erbarmt. Mein Herr ist Allvergebend und Barmherzig.“
Laut Ibn Kathir gehörte der Traum des Königs zu Gottes Plan, der vorsah, dass Yusuf das Gefängnis
verließ, um beim König in Dienst zu treten. Gott ließ also den König bewusst diesen Traum
träumen, damit man sich an Yusuf erinnere und ihn aus dem Gefängnis hole und ihn dem König
vorstelle.

Der König erkannte, dass der Traum eine wichtige Botschaft an ihn enthielt und fragte seine
Priester, Ratgeber, Minister etc., doch niemand war in der Lage, den Traum zu deuten, so
verwirrend und unlogisch erschien er ihnen.

Der Mann, der einst mit Yusuf im Gefängnis saß, erinnert sich nun an Yusuf und verspricht, die
Bedeutung des Traums in Erfahrung zu bringen und bittet darum, Yusuf aufsuchen zu dürfen. Er
spricht ihn mit „Du Wahrhaftiger“ an, weil die Deutung seines eigenen Traumes vor vielen Jahren
richtig war und er aus dem Gefängnis entlassen wurde. Yusuf macht ihm keine Vorwürfe, weil er
vergessen hatte, ihn beim König zu erwähnen. Er deutet den Traum des Königs und spricht
Empfehlungen zum Umgang mit den harten Jahren aus.

Der König ist beeindruckt von Yusufs Fähigkeiten und schickt einen Boten, der Yusuf an den
Königshof bringen soll. Yusuf ist also frei. Doch Yusuf möchte das Gefängnis so lange nicht
verlassen, bis die Sache mit der Vergewaltigung geklärt ist. Es ist ihm sehr wichtig, dass der Aziz
weiß, dass er ihn nie betrogen hat. Der König persönlich kümmert sich um diese Angelegenheit.
Die Wahrheit wird ein weiteres Mal bestätigt, dieses Mal sogar gegenüber dem König, der
allerhöchsten Stelle also. Yusuf ist unschuldig und es war die Frau des Aziz‘, die übergriffig war.
Yusuf wird rehabilitiert und der Aziz weiß nun, dass Yusuf ihm gegenüber immer ehrlich und loyal
war.

Laut Ibn Kathir ist es die Frau des Aziz‘, die in Vers 52 und Vers 53 spricht, denn Yusuf ist während
dieser Befragung nicht anwesend, andere Kommentatoren wie At-Tabari und Ibn Abi Hatim gehen
davon aus, dass Vers 52 und Vers 53 Yusufs Worte wiedergeben. Ibn Kathir schreibt, dass die Frau
des Aziz‘ zugibt, dass sie versucht hat, Yusuf zu verführen, dass es aber dank Yusufs Standhaftigkeit
nie zum Ehebruch/zum Verrat kam. Ihr Mann soll also wissen, dass es zwischen ihr und Yusuf nie zu
sexuellen Handlungen kam.

54 Und der König sagte: „Bringt ihn zu mir. Ich will ihn mir selbst vorbehalten.“ Als er mit ihm
sprach, sagte er: „Du bist (von) heute (an) bei uns in fester Stellung und vertrauenswürdig.“
55 Er sagte: „Setze mich über die Vorratskammern des Landes ein; ich bin ein kenntnisreicher
Hüter.“
56 So verliehen Wir Yusuf eine feste Stellung im Land, so daß er sich darin aufhalten konnte, wo
immer er wollte. Wir treffen mit Unserer Barmherzigkeit, wen Wir wollen, und Wir lassen den Lohn
der Gutes Tuenden nicht verlorengehen.
57 Aber der Lohn des Jenseits ist wahrlich besser für diejenigen, die glauben und gottesfürchtig
sind.
58 Und da kamen Yusufs Brüder und traten bei ihm ein. Er erkannte sie, während sie ihn nicht
erkannten.
59 Als er sie nun mit ihrem Bedarf ausgestattet hatte, sagte er: „Bringt mir einen (Halb)bruder von
euch väterlicherseits. Seht ihr denn nicht, daß ich volles Maß gebe und daß ich der beste
Obdachgeber bin?
60 Wenn ihr ihn mir nicht bringt, so bekommt ihr bei mir kein Maß mehr, und ihr sollt nicht in
meine Nähe kommen.“
61 Sie sagten: „Wir werden versuchen, seinen Vater in Bezug auf ihn zu bewegen, und wir werden
es bestimmt tun.“

Der König erkennt das Gute in Yusuf und nimmt ihn in den Kreis der engsten Vertrauten auf. Yusuf
bietet sich selbst als Verwalter der Vorratskammern an und der König überträgt ihm dieses Amt.
Nach all den harten und entbehrungsreichen Jahren als vermeintlicher Verbrecher im Gefängnis
kann sich Yusuf nun im Land frei bewegen und genießt hohes Ansehen. Die Dinge wenden sich nun
endlich für ihn zum Guten. Wer Gutes in die Welt hinausschickt, wird letztendlich mit Gutem
belohnt. Sein Schicksal annehmen, geduldig sein und hoffen.

Die schlimmen Jahre brechen heran und die Leute kommen von überall her, um in Ägypten
Getreide zu kaufen, denn dank des umsichtigen Verwalters der Vorratskammern, gibt es in Ägypten
ausreichend Getreide. Auch Yusufs Brüder kommen nun nach Ägypten. Er erkennt sie sofort,
während sie ihn nicht erkennen. Er war ihnen nie wirklich wichtig. Sie haben keine Erinnerungen
mehr an ihn. Außerdem hätten sie nie damit gerechnet, dass aus ihm, dem verhassten Bruder,
einmal ein so mächtiger und angesehener Mann werden würde.

Er verwickelt sie in ein Gespräch und erfährt, dass es noch einen Bruder gibt, den jüngsten. Er
erfährt auch, dass sein Vater sehr an ihm hängt und ihn deswegen nicht mit den anderen hat
mitziehen lassen. Er erfährt, dass ein anderer Bruder (die Rede ist von ihm) gestorben ist.
Nun ist es so, dass das Getreide pro Person ausgegeben wird und Yusuf die Brüder darauf hinweist,
dass der jüngste Bruder persönlich erscheinen muss, um seinen Anteil zu erhalten. Er droht ihnen
sogar damit, ihnen gar kein Getreide mehr auszuhändigen, wenn der jüngste Bruder beim
nächsten Mal nicht mitkommen sollte. Man kann sagen, dass er seine Brüder erpresst. Er hat die
Chance, die diese Begegnung mit seinen Brüdern bietet, natürlich erkannt und einen Plan gefasst.
Er möchte den Brüdern zeigen, welches Unrecht sie an ihm begangen haben und er möchte sie
quasi dazu bringen, ihre Tat noch einmal durchzuspielen, dieses Mal mit dem jüngeren Bruder. Er
wird den Bruder bei sich behalten, sodass sie trotz heiligstem Versprechen ohne ihn zum Vater
zurückkehren müssen. Werden sie die Parallelen erkennen? Werden sie ihn erkennen? Werden ihr
Unrecht von damals erkennen?

Die Brüder versprechen, mit dem Vater zu reden und hoffen, dass der Vater einlenken wird. Es
winkt ja eine zusätzliche Ladung Getreide.

Zu Vers 54 und Vers 55 siehe auch diese interessante Abhandlung aus Koran erklärt des
Deutschlandfunks:
http://www.deutschlandfunk.de/sure-12-verse-54-55-die-josefs-geschichte-imkoran.
2395.de.html?dram:article_id=352044

62 Und er sagte zu seinen Burschen: „Steckt ihre (Tausch)ware (zurück) in ihr Gepäck, so daß sie sie
(wieder)erkennen, wenn sie zu ihren Angehörigen zurückgekehrt sind, auf daß sie wiederkommen
mögen.“
63 Als sie zu ihrem Vater zurückkamen, sagten sie: „O unser Vater, ein (weiteres) Maß ist uns
verweigert worden. Darum lasse unseren Bruder mit uns gehen, so bekommen wir ein (weiteres)
Maß zugeteilt; wir werden ihn fürwahr behüten.“
64 Er sagte: „Kann ich ihn euch etwa anders anvertrauen, als ich euch zuvor seinen Bruder
anvertraut habe? Allah ist besser als Behütender, und Er ist der Barmherzigste der Barmherzigen.
65 Und als sie ihre Sachen öffneten, fanden sie, daß ihre Ware ihnen zurückgegeben worden war.
Sie sagten: „O unser Vater, was begehren wir (mehr)? Das ist unsere Ware, sie ist uns
zurückgegeben worden. Wir werden Vorrat für unsere Angehörigen bringen, unseren Bruder
behüten und das Maß (der Last) eines Kamels mehr haben. Das ist ein leicht(erhältlich)es Maß.
66 Er sagte: „Ich werde ihn nicht mit euch senden, bis ihr mir ein verbindliches Versprechen vor
Allah gebt, daß ihr ihn mir ganz gewiß wiederbringt, es sei denn, ihr werdet umringt.“ Als sie ihm
ihr verbindliches Versprechen gegeben hatten, sagte er: „Allah ist Sachwalter über das, was wir
(hier) sagen.“
67 Und er sagte: „O meine Kinder, geht nicht (alle) durch ein einziges Tor hinein, sondern geht
durch verschiedene Tore hinein. Ich kann euch gegen Allah nichts nützen. Das Urteil ist allein
Allahs. Auf Ihn verlasse ich mich; und auf Ihn sollen sich diejenigen verlassen, die sich (überhaupt
auf jemanden) verlassen (wollen).“
68 Als sie hineingingen, wie ihr Vater ihnen befohlen hatte, konnte es ihnen vor Allah nichts
nützen. (Es war) nur ein Bedürfnis in der Seele Ya’qubs, das er (damit) erfüllte. Und er besaß
fürwahr Wissen, weil Wir es ihn gelehrt hatten. Aber die meisten Menschen wissen nicht.

Yusuf lässt das Geld/die Güter, die die Brüder für das Getreide bezahlt haben, wieder in ihre
Taschen stecken, in der Hoffnung, sie würden wiederkommen. Er weiß ja nicht, wie es um ihre
finanzielle Lage steht und ob sie ausreichend Mittel haben, um ein weiteres Mal in Ägypten
Getreide zu kaufen. Würden sie aber das Geld/die Güter in ihren Taschen finden, würden sie diese
Chance nutzen, um ein zweites Mal in Ägypten Getreide zu kaufen.

Nun müssen die Brüder ihren Vater bitten, Benjamin, den Jüngsten, mit ihnen ziehen zu lassen,
damit auch er seinen Anteil erhält. Sie versprechen, gut auf ihn aufzupassen. Jakob muss sofort an
Yusuf denken. Seit dem Tag von Yusufs Verschwinden denkt er an ihn, vermisst er ihn. Genau das
Gegenteil, von dem, was die Brüder errreichen wollten, ist eingetreten. Sie dachten, ihr Vater
würde Yusuf irgendwann vergessen. Stattdessen bestimmt der Kummer um seinen Sohn sein
Leben.

Die Brüder entdecken ihr Geld/ihre Güter in den Taschen und sind hocherfreut. Sie können ein
zweites Mal Getreide in Ägypten einkaufen. Kommt irgendeinem der Gedanke, dass es irgendwie
unmoralisch wäre, mit diesem Geld ein zweites Mal einzukaufen? Immerhin haben sie für diese
Geld schon Ware erhalten. Eigentlich sollten sie das Geld zurückbringen. Es muss da ja irgendein
Missverständnis vorliegen. Aber diesen Gedanken hat keiner der Brüder.

Die Brüder drängen ihren Vater dazu, Benjamin mit ihnen gehen zu lassen. Die zusätzliche Ladung
Getreide dient als Köder und Jakob gibt wieder nach und lässt Benjamin mit ihnen gehen.
Er weist sie an, durch verschiedene Tore in die Stadt hineinzugehen. Das ist eine
Vorsichtsmaßnahme. Viele Menschen kommen nach Ägypten mit ihrem Geld, um in Ägypten
Getreide zu kaufen. Das zieht Diebe und Räuber an. Sie könnten überfallen werden. Wenn sie sich
aber trennen, vermindert das das Risiko, dass sie alle Opfer eines Überfalls werden. Es ist Jakob
aber auch bewusst, dass er damit letztendlich nichts verhindern kann. Die Dinge werden ihren Lauf
nehmen. Man hat das Schicksal nicht in der Hand. Man kann es nur annehmen, hoffen und
geduldig bleiben. Aber es beruhigt ihn einfach. Jakob tut das, was in seiner Macht steht. Er warnt
seine Söhne vor den Gefahren der Reise, vor der Möglichkeit eines Überfalls und gibt ihnen einen
Ratschlag zur Minimierung des Risikos mit an die Hand. Es beruhigt ihn zu wissen, dass er das
getan hat, was er mit seinen Möglichkeiten machen konnte. Den Rest muss Gott übernehmen
sozusagen. Und genau diese Haltung zeugt von Wissen und Weisheit. Das tun, was in der eigenen
Macht steht, auf Gott vertrauen und das Schicksal annehmen.

69 Als sie bei Yusuf eintraten, zog er seinen Bruder zu sich. Er sagte: „Gewiß, ich bin dein Bruder. So
sei nicht bekümmert wegen dessen, was sie getan haben.“
70 Als er sie nun mit ihrem Bedarf ausgestattet hatte, steckte er das Trinkgefäß in das Gepäck
seines Bruders. Hierauf rief ein Rufer aus: „Ihr (da, von der) Karawane, ihr seid fürwahr Diebe.“
71 Sie sagten, indem sie sich ihnen zuwandten: „Was vermißt ihr?“
72 Sie sagten: „Wir vermissen den Kelch des Königs. Wer ihn wiederbringt, erhält die Last eines
Kamels, und dafür bin ich Bürge.“
73 Sie sagten: „Bei Allah, ihr wißt doch, wir sind nicht gekommen, um im Land Unheil zu stiften,
und wir sind keine Diebe.“
74 Sie sagten: „Was soll dann die Vergeltung dafür sein, wenn ihr Lügner seid?“
75 Sie (die Brüder) sagten: „Die Vergeltung dafür soll sein, daß derjenige, in dessen Gepäck er
gefunden wird, selbst das Entgelt dafür sein soll. So vergelten wir den Ungerechten.“

Der Leser/Zuhörer weiß wieder mehr als die Beteiligten. Die Brüder ahnen auch nicht im
Entferntesten, wer vor ihnen steht und in welche Inszenierung sie hineingeraten.
Die Brüder werden von Yusuf empfangen. Ibn Kathir schreibt, dass Yusuf sie zu einem üppigen
Mahl einlädt. Bei der Gelegenheit nimmt er seinen jüngeren Bruder Benjamin zur Seite und gibt
sich ihm zu erkennen. Er erzählt ihm, was passiert ist und er erzählt ihm auch, was er nun plant.
Sein Bruder wird kooperieren. Benjamin sieht seine Brüder nun in einem anderen Licht. Plötzlich
sind sie nicht mehr die schützenden liebevollen Brüder, für die er sie hielt, sondern kalte
skrupellose Verbrecher. Das macht ihn traurig, und Yusuf muss ihn trösten.
Letztendlich wiederholt sich jetzt die Ausgangsgeschichte mit dem Unterschied, dass der Täter nun
Yusuf ist.

Unter einem falschen Vorwand hat er die Brüder dazu gebracht, den Vater zu überreden, ihnen
Benjamin mitzugeben. Nun wird Yusuf einen Diebstahl vortäuschen und den jüngsten Bruder
beschuldigen, mit dem Ziel, ihn bei sich zu behalten. Die Brüder hatten damals keinen Diebstahl
vorgetäuscht, sondern einen tödlichen Unfall, eine tödliche Begegnung mit einem Wolf und auch
sie hatten ein „Beweisstück“ präpariert, um die Geschichte authentisch aussehen zu lassen. Yusufs
präparierter Beweis ist der Kelch des Königs, den er selbst in die Tasche seines Bruders gesteckt
hatte.

Kurz darauf wird der Kelch entdeckt und die Brüder des Diebstahls bezichtigt. Yusuf setzt eine
außerordentliche Belohnung aus für denjenigen, der den Kelch wiederbringt. Er weiß genau, dass
niemand ihn bringen wird. Die Brüder weisen alle Schuld von sich. Wie muss das in Yusufs Ohren
klingen. „Ihr seid ohne Schuld?“ Haben sie vergessen, was sie vor vielen Jahren getan haben? Er
fragt sie nach ihren Gesetzen. Was wäre die angemessene Bestrafung nach ihren Gesetzen für
jemanden, der den Kelch des Königs stiehlt? Sie antworten: unserem Recht nach muss der Dieb in
die Sklaverei überführt werden und gehört ab sofort dem Geschädigten. Ibn Kathir schreibt hierzu,
dass dies nicht die Strafe nach ägyptischem Recht gewesen wäre. Yusuf hätte nach ägyptischem
Recht nicht die Möglichkeit gehabt, den jüngsten Bruder im Land festzuhalten. Also fragt er die
Brüder nach ihrem Recht, denn er kennt die Antwort sehr wohl. Er weiß, dass die Strafe die
Versklavung ist. Nach ihrem Recht ist er also befugt, den jüngsten Bruder in Ägypten festzuhalten
und genau das war sein Ziel.

76 Er begann (zu suchen) in ihren Behältern vor dem Behälter seines Bruders. Hierauf holte er es
aus dem Behälter seines Bruders hervor. So führten Wir für Yusuf eine List aus. Nach dem Gesetz
des Königs hätte es ihm nicht zugestanden, seinen Bruder (als Sklaven) zu nehmen, außer daß
Allah es wollte. Wir erhöhen, wen Wir wollen, um Rangstufen. Und über jedem, der Wissen
besitzt, steht einer, der (noch mehr) weiß.
77 Sie sagten: „Wenn er stiehlt, so hat ein Bruder von ihm schon zuvor gestohlen.“ Aber Yusuf hielt
es in seinem Innersten geheim und legte es ihnen nicht offen. Er sagte: „Ihr befindet euch in einer
(noch) schlechteren Lage. Und Allah weiß sehr wohl, was ihr beschreibt.“
78 Sie sagten: „O hoher Herr, er hat einen Vater, einen hochbetagten Greis. So nimm einen von uns
an seiner Stelle. Wir sehen, daß du zu den Gutes Tuenden gehörst.“
79 Er sagte: „Allah schütze uns (davor), daß wir einen anderen nehmen als denjenigen, bei dem wir
unsere Sachen gefunden haben! Wir würden sonst wahrlich zu den Ungerechten gehören.“
80 Als sie die Hoffnung an ihm aufgegeben hatten, zogen sie sich zurück zu einem vertraulichen
Gespräch. Der Älteste von ihnen sagte: „Wißt ihr (denn) nicht, daß euer Vater von euch ein
verbindliches Versprechen vor Allah entgegengenommen hat und daß ihr zuvor (eure Pflicht)
gegenüber Yusuf vernachlässigt habt? Ich werde das Land nicht verlassen, bis mein Vater es mir
erlaubt oder Allah ein Urteil für mich fällt. Er ist der Beste derer, die Urteile fällen.
81 Kehrt zu eurem Vater zurück und sagt: ,O unser Vater, dein Sohn hat gestohlen, und wir
bezeugen nur das, was wir wissen, und wir sind nicht Hüter über das Verborgene.
82 Frag die Stadt, in der wir waren, und die Karawane, mit der wir angekommen sind. Wir sagen
gewiß die Wahrheit‘.“

Der gestohlene Kelch wird in den Taschen des jüngsten Bruders gefunden und Yusuf nimmt ihn als
Sklaven. Sein Plan geht auf. Die Brüder distanzieren sich augenblicklich von ihrem jüngsten Bruder
und bringen nun auch noch Yusuf ins Spiel, der ebenfalls ein Dieb gewesen sein soll. Yusuf sagt nun
zu sich selbst: Ihr befindet euch in einer (noch) schlechteren Lage. Denn er weiß, dass er sich ihnen
bald zu erkennen geben wird, und dass dann die ganze Wahrheit ans Tageslicht kommen wird und
die Brüder sich nicht mehr rausreden können.

Die Brüder bitten Yusuf inständig um Nachsicht. Sie bringen ihren alten Vater ins Gespräch, der an
Kummer zerbrechen wird, wenn sein jüngster Sohn nicht mehr zurückkommt. Sie bieten an, einen
anderen an seiner Stelle hierzulassen. Sie haben erkannt, dass Yusuf ein gerechter und gütiger
Mann ist. Aber genau deswegen kann Yusuf ja nicht den Falschen versklaven. Es muss der
Schuldige bestraft werden und nicht der Unschuldige. Würde er einen Unschuldigen versklaven,
wäre er ja ein ungerechter Mann. Yusuf ist unnachgiebig. Benjamin bleibt bei ihm.

Die Brüder beraten sich nun. Wieder ist es der Älteste, der zu Besonnenheit mahnt. Er erinnert an
den Vater zuhause, dem sie versprochen haben, Benjamin zurückzubringen. Und nun, zum ersten
Mal, kommt das Geschehen um Yusuf zwischen ihnen zur Sprache. Er schämt sich. Er will seinem
Vater nicht unter die Augen treten ohne Benjamin. Er will solange in Ägypten bleiben, bis der Vater
ihm erlaubt, zurückzukehren, oder bis eine Änderung in der Situation eintritt und er
möglicherweise mit seinem Bruder nach Hause kehren kann.

Er schickt seine Brüder zu ihrem Vater nach Hause zurück und weist sie an, ihrem Vater die
Wahrheit zu sagen. Und dieses Mal ist es die Wahrheit.

83 Er sagte: „Nein! Vielmehr habt ihr selbst euch etwas eingeredet. (Es gilt) schöne Geduld (zu
üben). Aber vielleicht wird Allah sie mir alle wiederbringen. Er ist ja der Allwissende und Allweise.“
84 Und er kehrte sich von ihnen ab und sagte: „O mein Kummer um Yusuf!“ Und seine Augen
wurden weiß vor Trauer, und so hielt er (seinen Kummer) zurück.
85 Sie sagten: „Bei Allah, du hörst nicht auf, Yusufs zu gedenken, bis du hinfällig geworden bist oder
zu denen gehörst, die umkommen.“
86 Er sagte: „Ich klage meinen unerträglichen Kummer und meine Trauer nur Allah (allein), und ich
weiß von Allah her, was ihr nicht wißt.
87 O meine Kinder, geht und erkundigt euch über Yusuf und seinen Bruder. Und gebt nicht die
Hoffnung auf das Erbarmen Allahs auf. Es gibt die Hoffnung auf das Erbarmen Allahs nur das
ungläubige Volk auf.“

Jakob glaubt ihnen nicht, obwohl sie ihm dieses Mal die Wahrheit sagen. Und er hat ein Déjà-vu-
Erlebnis. Wieder ließ er seinen Sohn mit den Brüdern ziehen und wieder bringen sie ihn nicht
zurück und wieder hält er ihre Erklärungen für eine Lüge. Schlagartig sind die Geschehnisse um
Yusuf wieder präsent. Die alte Wunde ist mit einem Mal wieder aufgerissen. Seine Augen sind
mittlerweile schlecht geworden, weil er so viel um Yusuf weint. Doch wieder gilt es, sein Schicksal
anzunehmen, geduldig zu sein und zu hoffen, zu hoffen, dass Gott alle drei Söhne zurückbringt,
denn es sind ja außer Yusuf noch zwei weitere Söhne in Ägypten geblieben, Benjamin und der
älteste Sohn, der erst heimkommen möchte, wenn ihm der Vater verzeiht bzw. er mit Benjamin
zurückkommen kann.

Jakob verbirgt seine Tränen und seine Trauer. Zu oft musste er sich von seinen Söhnen den Vorwurf
anhören, dass diese Trauer sinnlos sei, dass sie ihn selbst irgendwann zerstören würde. Und auch
dieses Mal bemerken die Brüder, dass er um Yusuf trauert und schimpfen mit ihm. Sie empfinden
kein Mitleid mit ihm. Aus ihrer Sicht macht er sich eher lächerlich. Er weiß, dass er ihrerseits kein
Mitgefühl erwarten darf. Aber Gott ist mitfühlend und verständnisvoll. Und Gott lenkt die
Geschicke. Und Gott lenkt die Geschicke zum Guten. Und es gibt da immer noch die Erinnerung an
den Traum, der eine eindeutige Botschaft enthielt. Die elf Planeten, die Sonne und der Mond
verneigen sich vor Yusuf. Dieser Traum nährt Jakobs Hoffnung. Steht seine Erfüllung bevor? So viel
Zeit ist inzwischen vergangen. Was ist aus Yusuf geworden? Ist der Zeitpunkt des Wiedersehens
gekommen?

Die Brüder wissen nichts von dem Traum. Jakob hatte Yusuf ermahnt, seinen Brüdern nie etwas
von dem Traum zu erzählen, das sie sonst eine List gegen ihn planen würden. Deswegen sagt Jakob
zu ihnen: „und ich weiß von Allah her, was ihr nicht wißt.“

Er beauftragt sie damit, sich nach Yusuf und seinem Bruder zu erkundigen. Wer Gutes in die Welt
hinausschickt, darf auf Gutes hoffen. Die Leugner verstehen das nicht. Sie kämpfen gegen ihr
Schicksal an, bis sie daran verzweifeln.

88 Als sie (wieder) bei ihm eintraten, sagten sie: „O hoher Herr, Unheil ist uns und unseren
Angehörigen widerfahren. Und wir haben (nur) Ware von geringem Wert gebracht. So gib uns
(dennoch) volles Maß und gib (es) uns als Almosen. Allah vergilt denjenigen, die Almosen geben.“
89 Er sagte: „Wißt ihr (noch), was ihr Yusuf und seinem Bruder damals in eurer Torheit antatet?“
90 Sie sagten: „Bist du denn wirklich Yusuf?“ Er sagte: „Ich bin Yusuf, und das ist mein Bruder. Allah
hat uns eine Wohltat erwiesen. Gewiß, wer gottesfürchtig und standhaft ist — gewiß, Allah läßt den
Lohn der Gutes Tuenden nicht verlorengehen.“
91 Sie sagten: „Bei Allah, Allah hat dich uns vorgezogen. Und wir haben wahrlich Verfehlungen
begangen.“
92 Er sagte: „Keine Schelte soll heute über euch kommen. Allah vergibt euch, Er ist ja der
Barmherzigste der Barmherzigen.
93 Geht mit diesem meinem Hemd und legt es auf das Gesicht meines Vaters, so wird er sein
Augenlicht (wieder)erlangen. Und bringt eure Angehörigen allesamt zu mir.“

Die Brüder kehren nach Ägypten zurück und begegnen Yusuf wieder. Sie erzählen ihm davon, wie
sehr ihr Vater um den Verlust der Brüder trauert, wie sehr die Hungersnot auch sie betrifft, wie
sehr die ganze Familie unter all dem leidet. Sie können nur geringe Waren zum Tausch anbieten, da
ihnen selbst die Mittel allmählich ausgehen. Sie appellieren an seine Gutherzigkeit und seine
Großzügigkeit und bitten um Almosen. Sie stehen als Bittsteller vor ihm, gedemütigt, in Not,
unterwürfig, schwach.

Das trifft Yusuf mitten ins Herz. Es sind immer noch seine Brüder und er stellt sich seinen Vater vor,
der um ihn, um Benjamin und um den ältesten Sohn trauert. Er sieht seine ganze Familie vor sich,
die sowohl an der Trauer um die verloren geglaubten Söhne als auch unter der herrschenden
Armut zu zerbrechen droht und gibt sich nun zu erkennen.

Er erinnert sie an ihre Tat, die sie vor vielen Jahren begangen haben. Die Brüder können nicht
glauben, dass Yusuf vor ihnen. Es ist nun das dritte Mal, dass sie vor ihm stehen und haben ihn die
ganze Zeit nicht erkannt. Dieser mächtige reiche Mann ist ihr verhasster Bruder Yusuf? Der Bruder,
den sie ihm Brunnen zurückließen und der in die Sklaverei verkauft wurde? Das ist Yusuf?
Yusuf bittet Benjamin hinzu. Benjamin war natürlich sein Gast und nicht sein Sklave. Während
seines Aufenthaltes in Ägypten ging es ihm blendend. Wer Gutes in die Welt hinausschickt, dem
wird Gutes zuteil. Wer Schlechtes in die Welt hinausschickt, dem wird Schlechtes zuteil. Jeder
erntet das, was er sät.

Interessant ist die Entwicklung, die es einerseits für die Brüder und andererseits für Yusuf gab.
Die Brüder wollten erreichen, dass ihr Vater sie liebt (wobei man nicht von Liebe sprechen kann,
denn Liebe kann man nicht erzwingen. Es ging ihnen letztendlich um eine Vorrangsstellung
gegenüber Yusuf). Sie wollten ihr Ziel mit Gewalt erreichen und wurden übergriffig. Infolgedessen
hat sich ihre Lage kontinuierlich verschlechtert. Erstens haben sie ihr Ziel nicht erreicht. Yusuf war
zwar körperlich nicht anwesend, die Trauer um ihn bestimmte aber fortan das Leben des Vaters.
Vielleicht war Yusuf gar noch mehr präsent als zuvor. Sie sind ihn nicht losgeworden. Dann
kommen die schlechten Jahren und sie müssen nach Ägypten ziehen, um dort Getreide zu kaufen.
Ihr Bruder wird des Diebstahls bezichtigt und wird als Sklave in Ägypten festgehalten. Der älteste
Bruder bleibt gleich auch noch dort. Ihre Vorräte sind aufgebraucht, die Armut nimmt zu, sie
können kein Getreide mehr kaufen und müssen nun gar als Bittsteller/Bettler vor den Verwalter
der Vorratskammern treten und um Essen bitten, während zuhause ihr Vater gänzlich in seinen
Kummer um die verlorenen Söhne versunken ist. Die Situation hat sich also für die Brüder immer
mehr verschlechtert.

Ganz anders bei Yusuf. Er landet im Brunnen und wird von Reisenden gerettet. Er hat Glück und
wird vom Aziz gekauft, der ihn wie seinen eigenen Sohn behandelt, ihm eine gute Erziehung
zukommen lässt und ihn behütet und beschützt. Er geht freiwillig ins Gefängnis, damit das Gerede
aufhört, und trifft dort auf Bedienstete des Königs. Einer von ihnen wird ihn später dem König
vorstellen. Der König erkennt seine Fähigkeiten und seinen guten Charakter und nimmt ihn in
Dienst. Er überträgt ihm eines der wichtigsten Ämter des Landes: die Vorratskammern. Yusuf ist ein
mächtiger angesehener wohlhabender Mann und er ist sehr weise und umsichtig. Er legt Reserven
an für die schlechten Jahre, die kommen werden und die letztendlich auch der Grund sein werden,
warum seine Brüder irgendwann vor ihm stehen. Die einzelnen Puzzleteile fügen sich allmählich
zusammen. Sind das alles Zufälle?

Am Anfang ist es Yusuf, der seinen Brüdern wehr- und hiflos ausgesetzt ist, der schwach ist, der an
ihr Mitgefühl appelliert, während sie stark und mächtig sind. Am Ende sind die Brüder hilflos und
schwach und appelllieren an sein Mitgefühl, während er mächtig und stark ist.
Die Brüder lassen sich jedoch von Yusufs Bitten nicht erweichen und führen ihre Tat durch. Yusuf
hingegen wird von Mitgefühl übermannt und gibt sich zu erkennen.

Nun endlich erkennen die Brüder ihr Unrecht. Es wird ihnen bewusst, dass es ihre eigene
Verblendung und die daraus resultierenden Handlungen waren, die dazu führte, dass Gott sie in
diese missliche Lage gebracht hat. Yusufs guter Charakter beweist sich erneut: er vergibt seinen
Brüdern. Die Sache soll endlich abgeschlossen sein. Keine Vorwürfe mehr. Und dadurch, dass er
seinen Brüdern vergibt, ist die Sache auch vor Gott vergeben. Die Schuld ist gelöscht. Und er gibt
ihnen sein Hemd, damit sie es ihrem Vater auf das Gesicht legen und seine Tränen endlich
versiegen und er weiß, dass Yusuf lebt. Es war damals sein Hemd, das die Brüder mit Tierblut
getränkt hatten, das dem Vater zeigen sollte, dass Yusuf tot ist. Und es soll sein Hemd sein getränkt
dieses Mal mit seinem Schweiß, das dem Vater beweisen wird, das Yusuf lebt.
Er bittet sie, die ganze Familie nach Ägypten zu holen.

94 Als nun die Karawane aufgebrochen war, sagte ihr Vater: „Wahrlich, ich nehme Yusufs Geruch
war. Wenn ihr mich nur nicht bezichtigen würdet, Unsinn zu reden!“
95 Sie sagten: „Bei Allah, du befindest dich fürwahr in deinem alten Irrtum.“
96 Als nun der Frohbote kam, legte er es auf sein Gesicht, und da hatte er sein Augenlicht
wiedererlangt. Er sagte: „Habe ich euch nicht gesagt, daß ich von Allah her weiß, was ihr nicht
wißt?“
97 Sie sagten: „O unser Vater, bitte für uns um Vergebung unserer Sünden, denn wir haben gewiß
Verfehlungen begangen.“
98 Er sagte: „Ich werde meinen Herrn um Vergebung für euch bitten. Er ist ja der Allvergebende
und Barmherzige.“
99 Als sie nun bei Yusuf eintraten, zog er seine Eltern an sich und sagte: „Betretet Ägypten, wenn
Allah will, in Sicherheit.“
100 Und er hob seine Eltern auf den Thron empor. Und sie fielen vor ihm ehrerbietig nieder. Er
sagte: „O mein lieber Vater, das ist die Deutung meines (Traum)gesichts von zuvor. Mein Herr hat
es wahrgemacht. Und Er hat mir Gutes erwiesen, als Er mich aus dem Gefängnis herauskommen
ließ und euch aus dem nomadischen Leben hierherbrachte, nachdem der Satan zwischen mir und
meinen Brüdern (zu Zwietracht) aufgestachelt hatte. Gewiß, mein Herr ist feinfühlig (in der
Durchführung dessen), was Er will. Er ist ja der Allwissende und Allweise.
101 Mein Herr, Du hast mir etwas von der Herrschaft gegeben und mich etwas von der Deutung
der Sprüche gelehrt. (O Du) Erschaffer der Himmel und der Erde, Du bist mein Schutzherr im
Diesseits und Jenseits. Lass mich als (Dir) ergeben sterben und nimm mich unter die
Rechtschaffenen auf.“

Schon von weitem nimmt Jakob den Geruch Yusufs wahr. Die anderen halten ihn jetzt für komplett
dem Wahnsinn erlegen. Es ist wohl eher eine Vorahnung. Jakob spürt irgendwie, dass die Brüder
auf dem Heimweg sind und gute Nachrichten für ihn haben. Es liegt gewissermaßen etwas in der
Luft. Ein Gefühl stellt sich bei ihm ein, ein Gefühl der Zuversicht und der Vorfreude. Und
tatsächlich, die Vorfreude bestätigt sich. Die Brüder bringen ihm das Hemd Yusufs und seine Trauer
schlägt schlagartig in allergrößtes Glück um. Seine Hoffnung hat ihn nicht betrogen, Gott hat ihn
nicht betrogen. Der Traum wird wahr. Die Söhne gestehen nun alles. Die ganze Wahrheit tritt ans
Tageslicht. Und auch Jakob verzeiht und bittet Gott um Vergebung.

Die ganze Familie kommt in Ägypten an und begegnet Yusuf. Er bittet seine Eltern zu ihm auf den
Thron. Gott hat sie sowohl aus finanzieller Armut als auch aus der tiefen Trauer um die verloren
geglaubten Söhne herausgeführt nach Ägypten, in das Land, in dem es keine Armut und keine
Traurigkeit mehr gibt. Hier sind alle sicher, sowohl vor materiellem Verlust als auch vor seelischem
Schmerz. Die Eltern können ihr Glück nicht fassen und werfen sich vor ihm nieder. Das ist die Szene
aus dem Traum.

Es ist nun klar geworden, dass das alles nicht zufällig passierte, sondern einem Plan folgte. Es ist
klar geworden, dass Gott gut ist, er belohnt das Gute durch Gutes. Das Schlechte kommt vom
Satan, also vom eigenen verblendeten Ego, das seine eigenen egoistischen Ziele anstrebt und
dabei auch nicht vor Gewalt und Unrecht zurückschreckt. Gott greift subtil ein, lenkt das
Geschehen wieder in andere Bahnen und führt es zu SEINEM Ziel. Das Ziel des Satans/des eigenen
Egos wird nie erreicht. Yusuf ist dafür dankbar.

In dem Satzteil „als (Dir) ergeben“ steht im arabischen Text das Wort „musliman“. Die
Kommentatoren sind sich nicht darin einig, ob Yusuf diesen Satz sagt, in dem Moment, als er stirbt,
oder lange vorher. Ein Muslim ist demnach ein Mensch, der erkannt hat,

  • dass Gott gut ist und dass das Schlechte vom Teufel, also dem eigenen Ego, kommt
  • dass man das erntet, was man sät
  • dass Gott eingreift, um Schlechtes abzumildern oder abzuwehren
  • dass man die Pläne Gottes weder durchschauen noch vereiteln kann
  • dass man sein Schicksal annehmen soll, geduldig sein soll und hoffen soll
  • dass man mit Gewalt nichts erreichen kann
  • dass Gutes mit Gutem belohnt wird

Wer das erkannt hat, ist ein Muslim.

102 Dies gehört zu den Nachrichten vom Verborgenen, das Wir dir (als Offenbarung) eingeben.
Denn du warst nicht bei ihnen, als sie sich einigten, indem sie Ränke schmiedeten.
103 Aber die meisten Menschen werden, auch wenn du noch so sehr (danach) trachtest, nicht
gläubig sein.
104 Und du verlangst von ihnen keinen Lohn dafür. Es ist nur eine Ermahnung für die
Weltenbewohner.
105 Wie viele Zeichen gibt es in den Himmeln und auf der Erde, an denen sie vorbeigehen, wobei
sie sie unbeachtet lassen!
106 Und die meisten von ihnen glauben nicht an Allah, ohne (Ihm andere) beizugesellen.
107 Glauben sie denn, sicher zu sein davor, daß eine überdeckende Strafe von Allah über sie
kommt oder daß plötzlich die Stunde über sie kommt, ohne daß sie merken?
108 Sag: Das ist mein Weg: Ich rufe zu Allah aufgrund eines sichtbaren Hinweises, ich und
diejenigen, die mir folgen. Preis sei Allah! Und ich gehöre nicht zu den Götzendienern.
109 Und Wir haben vor dir nur Männer gesandt von den Bewohnern der Städte, denen Wir
(Offenbarungen) eingaben. Sind sie denn nicht auf der Erde umhergereist, so daß sie schauen
(konnten), wie das Ende derjenigen war, die vor ihnen waren? Die Wohnstätte des Jenseits ist
wahrlich besser für diejenigen, die gottesfürchtig sind. Begreift ihr denn nicht?
110 Erst dann, als die Gesandten die Hoffnung aufgegeben hatten und sie meinten, daß sie
belogen worden seien, kam Unsere Hilfe zu ihnen. Und so wird errettet, wen Wir wollen. Aber vom
übeltätigen Volk wird Unsere Gewalt nicht abgewandt.
111 In ihren Geschichten ist wahrlich eine Lehre für diejenigen, die Verstand besitzen. Es ist keine
Aussage, die ersonnen wird, sondern die Bestätigung dessen, was vor ihm war, und die
ausführliche Darlegung aller Dinge und eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für Leute, die
glauben.

Der Koran bestätigt, dass der Bericht über die Geschehnisse rund um Yusuf und seine Familie
direkt von Gott stammt. Muhammad war nicht dabei, als die Brüder von Yusuf ihre Pläne machten.
Muhammad ist kein Zeuge. Sein Wissen darüber wurde ihm von Gott mitgeteilt.

Dann wird Muhammad als empathisch und selbstlos beschrieben. Selbstlos, weil er keinen Lohn
dafür verlangt, dass er die Offenbarungen Gottes an die Menschheit weitergibt. Und empathisch,
weil er selbst sich wünschen würde, die Menschen würden glauben, denn es wäre gut für sie, nicht
für ihn selbst. Nicht Muhammad hätte etwas davon, wenn die Menschen glauben würden, sondern
die Menschen selbst.

In Vers 104 ist von Weltenbewohnern die Rede. Im Arabischen steht da „für die zwei Welten“ Ibn
Kathir deutet das so, dass damit einerseits die Gemeinschaft der Menschen gemeint ist und
andererseits die Gemeinschaft der Djinn, die sich ja auch am Jüngsten Tag für ihre Taten
verantworten müssen.

Die meisten Menschen glauben nicht, ohne dass sie neben Gott noch andere „Götter“ anbeten.
Gott offenbart sich nicht nur über Schriften, nein, Gott ist in allem sichtbar. Die Schöpfung dient
dem Erkenntnisprozess des Menschen. Sie soll ihn zum Nachdenken anregen.

Doch es sind ausgerechnet die Leugner, die dessen nicht gewahr sind. Sie leben in den Tag hinein
und haben überhaupt keine Vorstellung davon, dass sie sich für alles, was sie in diesem Leben tun,
einmal verantworten müssen. Diejenigen, für die die Ermahnung bestimmt ist, ignorieren sie. Der
Gläubige hat sowohl Schicksalschläge als auch das Ende immer irgendwie vor Augen. Er will in
jedem Moment bereit sein. Er vermeidet die Sünde und bemüht sich, Gutes zu tun. Der Leugner
hingegen ignoriert, dass sich das Schicksal wenden könnte oder er plötzlich mit dem Tod
konfrontiert wird. Er ist damit zufrieden, das Diesseits auszukosten und kümmert sich nicht um das
Jenseits, glaubt nicht, dass er für sein Tun zur Rechenschaft gezogen wird. Auch dann, wenn der
Mensch das bei anderen schon erlebt hat. Jemand ist ein Glückskind, alles gelingt ihm im Leben, er
hat keine Sorgen und keine Probleme und plötzlich von einem Moment auf den anderen verändert
sich das. Er wird schwer krank, er wird arm, er verliert geliebte Menschen, er wird vertrieben etc.

Und gilt das nicht auch für ganze Nationen und Zivilisationen? Wir besuchen nach wie vor Ruinen
von längst vergangenen Zivilisationen. Ruinen, die von Macht, Reichtum und Blüte zeugen und
doch ist diese Zivilisation untergegangen und wurde von anderen abgelöst. All dies soll den
Menschen zum Nachdenken anregen. Was ist vergänglich? Was bleibt? Was ist wichtig, was
unwichtig? Kann ich die Geschicke beeinflussen? Darf ich darauf vertrauen, dass das Gute, das ich
aussende, auch gute Auswirkungen auf mein eigenes Leben hat? Hat das Schlechte, das der
Mensch aussendet, letztendlich Auswirkungen auf sein Leben? Gibt es da einen Zusammenhang?
Die Hilfe kommt manchmal sehr spät, dann wenn sogar Propheten schon die Hoffnung aufgegeben
haben. Laut Ibn Kathir gibt es für diese Passage „und sie meinten, daß sie belogen worden seien“
zwei Auslegungen. Die einen meinen, dass damit die Gläubigen gemeint sind, die die Propheten
nicht wirklich tatkräftig unterstützt haben, andere meinen, dass damit die Leugner gemeint sind,
die alles tun, um die Propheten und ihre Anhänger zu diskreditieren.

Der letzte Vers sagt klar und deutlich aus, dass in diesen Geschichten eine Lehre steckt, und dass
sie die Menschen zum Nachdenken bringen sollen.
Es sind keine Erzählungen, die unterhalten sollen. Die Erzählungen stecken voller Weisheit und
dienen der Wahrheitsfindung.

Was kann man nun abschließend noch über die Sure sagen? Was hat sie mit uns im Hier und Jetzt
zu tun? Was hat sie mit einem Reformislam zu tun?

Auffallend ist zunächst einmal, dass die drei einzelnen Geschichten (die Aussetzung Yusufs im
Brunnen, die Verführung Yusufs durch seine Adoptivmutter und die Einbehaltung Benajmins durch
Yusuf) sich bezüglich der darin enthaltenen Elemente stark ähneln. Verkürzt lässt sich sagen, dass
es in allen Geschichten darum geht, dass ein oder mehrere Familienmitglieder durch ein oder
andere in ein Gefängnis/eine hilflose Lage gebracht wird. Es taucht in allen Geschichten ein Hemd
auf als Beweis und der Vater/die Vaterfigur ist immer vernünftig und besonnen und hält eine
schützende Hand über Yusuf bzw. fördert ihn.

Wo liegen die Unterschiede? In den Absichten, die hinter den Taten stecken. In der ersten
Geschichte handeln die Täter aus Verblendung, verletztem Stolz und Gier heraus, sie möchten
Yusuf bewusst schaden, in der zweiten Geschichte handelt die Täterin aus einer wirren Gefühlslage
heraus, sie wird von ihren Gefühlen übermannt und nimmt die negativen Folgen ihres Tuns in Kauf,
und in der dritten Geschichte begegnet das Opfer seinen Tätern und will ihnen bewusst machen,
wie schlimm die Tat (für ihn und den Vater) war, die sie begangen haben.

Eine Handlungsabfolge und drei verschiedene Geschichten. Im Islam gilt, dass die Absichten
zählen. Verschiedene Menschen können ein- und dasselbe tun und es ist am Ende doch etwas ganz
anderes. Die Äußerlichkeiten sind nicht relevant. Deswegen sollte man sich auch nicht auf sie
versteifen. Das, was zählt, sind die Absichten und die wiederum kennt nur Gott. Im heutigen
Mainstream-Islam werden Äußerlichkeiten völlig überbewertet. Dieses Tun ist haram und dieses
Tun ist gottgefällig. Das ist falsch. Wichtig ist, warum ein Mensch etwas tut, was er damit bezweckt.
Handelt er aus Verblendung und Gier heraus und will er jemandem schaden? Oder handelt er aus
Empathie heraus und will etwas Gutes damit bezwecken?

Die Geschichten zeigen, dass Glaube und Konfession zwei völlig verschiedene Sachen sind. Sowohl
in der Familie Jakobs als auch bei den Ägyptern (die de facto Polytheisten waren) gibt es gläubige
Menschen und Leugner. Der Gläubige zeichnet sich durch seine Vernunft, seinen
Gerechtigkeitssinn, sein Mitgefühl, seine Weitsichtigkeit aus. Die Leugner zeichnen sich durch
Kurzsichtigkeit, unüberlegtes Handeln, Ignorieren der Konsequenzen des Handelns, durch Lügen,
Zweigesichtigkeit, Brutalität, Mitleidslosigkeit aus. Sie haben ihr eigenes Ziel vor Augen und das
wollen sie unter allen Umständen erreichen, notfalls über Gewalt und Übergriffe.
Der Gläubige nimmt sein Schicksal an, bleibt geduldig und ruhig, hofft, nimmt die Chancen, die sich
ihm bieten, wahr, verzweifelt nicht, bleibt konstant in guten wie in schlechten Tagen. Yusuf könnte
man als resilient bezeichnen, innerlich stark und unabhängig. Das ist auch die Defintion des
„Muslims“, wie wir sie in dieser Sure finden.

Gott wird sowohl von den Mitgliedern von Jakobs Familie als auch von den polytheistischen
Ägyptern als höchste Instanz angesehen. Die Ägyptischen Frauen rufen „Gott behüte“ aus. Gott ist
allen Menschen bekannt.

Die Geschichten zeigen, dass man viel planen und wollen kann, dass aber das Schicksal (Gott) seine
eigenen Pläne hat. Letztendlich wollten die Brüder Yusuf weghaben. Er sollte aus der Familie
verschwinden. Er sollte sterben oder aber als Sklave irgendwo sein Dasein fristen. De facto jedoch
hat ihre Tat am Ende dazu geführt, dass er einer der mächtigsten Männer in damals mächtigsten
Land wurde und sie sich ihm unterwarfen.

Die Geschichten zeigen, dass man sich unter einem Zeichen Gottes (einem Eingreifen Gottes)
nichts Metaphysisches vorstellen sollte. Gott greift ein, indem er z.B. Menschen zusammenbringt.
Yusuf kam in das Haus des Aziz. Dieser förderte und schützte ihn. Im ägyptischen Gefängnis traf er
auf Bedienstete des Königs. Einer davor wird ihn zum König führen. Gott greift ein, indem er nach
den guten Jahren die schlechten folgen lässt und die Brüder gezwungen sind, nach Ägypten zu
reisen, um dort Getreide einzukaufen. Wir sprechen dann von Schicksal.
Warum nun wird im Koran gesagt, dass diese Geschichte die schönste sei? Warum ist sie schöner
als z.B. die Geschichte um Moses?

Ich denke, sie ist deshalb die schönste Geschichte, weil es für alle Beteiligten ein Happy End gibt,
weil alle Täter irgendwann ihr Unrecht begreifen und bereuen und die Opfer ihnen vergeben und
sich am Ende alles zum Guten wendet.

In der Geschichte von Moses hingegen gibt es viel Gewalt. Pharao ist völlig uneinsichtig und
provoziert damit seinen eigenen Untergang. Und auch die Israeliten wenden sich von Gott wieder
ab, nachdem er sie aus der Sklaverei geführt hatte, und fertigen das Goldene Kalb an. Die
Konsequenz davon ist die, dass sie jahrelang durch die Wüste Sinai irren. Die Geschichte stimmt
einen eher traurig.

Die „Strafe Gottes“ ist das, was man durch seine eigenen Taten selbst produziert bzw. provoziert.
Man muss quasi die Suppe, die man sich eingebrockt hat, selbst auslöffeln. Die Brüder wollten die
Liebe des Vaters erzwingen, aber ihre Tat führte nur dazu, dass er am Kummer fast zerbrach und
Yusuf viel präsenter in seinem Kopf und seinem Herzen war als zuvor. Am Ende stehen sie ihm
gegenüber und müssen eingestehen, dass er im Leben viel weiter gekommen ist als sie und sich
ihm unterwerfen. Wenn Gott eingreift, dann immer nur um Dinge zum Positiven zu wenden. Er
schickt die Karawane vorbei, die Yusuf aus dem Brunnen holt. Er schickt den Aziz, der Yusuf kauft.
Er bringt Yusuf mit dem Bediensteten des Königs zusammen, der ihn später zum König führen wird
etc. etc. etc. Die Strafe ist das, was erfolgt, weil Gott nicht eingreift, sondern den Dingen freien
Lauf lässt.

Träume sind ein Weg der Kommunikation zwischen Gott und dem Menschen. Diese Träume
erfolgen vor dem eigentlichen Geschehen. Sie zeigen die Zukunft und sie sind für den Träumer
zunächst unverständlich. Sie werden entweder verstanden, weil ein anderer sie deutet oder sie
werden verstanden, wenn die Dinge, von denen man geträumt hat, allmählich wahr werden. Das
ist wichtig, damit der Träumer versteht, dass diese Träume tatsächlich eine Botschaft enthalten
und nicht einfach nur der eigenen Fantasie entspringen.

Auch interessant: an keiner Stelle dieser Geschichte wird berichtet, dass eine Person regelmäßig
ihre Gebete verrichtet und sich an die Fatwas hält und streng praktiziert, sich an irgendwelche
religiösen Vorschriften hält. Gebete finden in der Form der inneren Zwiesprache statt. Es wird auch
an keiner Stelle ein Gelehrter erwähnt, der die Gläubigen belehrt.

Fazit: Glauben ist eine innere Einstellung. Er hat weder mit der offiziellen Konfession zu tun, noch
mit dem Vollführen von standardisierten Handlungen. Der Glaube macht den Menschen innerlich
stark, ausgeglichen, resilient, selbstbestimmt. Der Gläubige hat die Kraft Schicksalsschläge
anzunehmen, sie zu verarbeiten, das Beste daraus zu machen und dabei gleichmütig zu bleiben,
umsichtig, mitfühlend, selbstlos.

Er braucht niemanden, der ihn bevormundet, ihn belehrt. Alles, was er braucht, ist einen inneren
Zugang zu Gott.

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