Soheib Bencheikh, französischer Islamgelehrter und ehemaliger Großmufit von Marseille, verglich einmal die Situation der Muslime in Europa mit der Situation der Israeliten in der Wüste Sinai.
Die Israeliten wurden aus der Sklaverei in die Freiheit geführt, durch ihren Gott. Er hatte ihnen jemanden geschickt, also Moses, der sie vom Joch der Sklaverei befreien sollte und dem dies auch gelang. Davon hatten sie geträumt, das hatten sie sehnlichst herbeigesehnt, IHN hatten sie sehnlichst herbeigesehnt, den Retter, den Erlöser. Doch kaum sind sie in der Freiheit angekommen, die sich zunächst als leere öde Wüste darstellt, lassen sie sich von seinem manipulativen Gegenspieler dazu verführen, das goldene Kalb anzufertigen. Ein Götzenbild. Ein Gott, wie ihn die ehemaligen Unterdrücker verehren. Das goldene Kalb kann sprechen, so wie auch die Götzen der Ägypter „sprechen“ konnten. Die Priester manipulierten dadurch das Volk. Und so einen Gott, so einen Glauben wollen die jetzt gerade in die Freiheit entlassenen Israeliten haben?
Ja, weil sie nämlich im Kopf noch nicht befreit sind. Im Kopf sitzen noch die alten bekannten Denkmuster und Vorstellungen. Das Neue ist zu befremdlich macht Angst, führt in die Öde, in die Wüste, man muss es selbst mit Leben füllen, darf sich nicht mehr von Verführern etwas Fertiges vorsetzen lassen. Sie werden das gelobte Land nie erreichen. Sie werden in der Wüste herumirren und nicht mehr herausfinden. Erst ihre Nachkommen, also die Generation, die in der Freiheit geboren wurde, die das Alte nicht mehr selbst erlebt hat, die die Unterdrückung nicht mehr selbst erlebt hat, die die Götterwelt der Ägypter nicht mehr selbst erlebt hat, wird in der Lage sein, das Neue zu schaffen. Sie werden das Alte vollständig zurücklassen und ein neues Leben im gelobten Land antreten.
Und so ist es mit den Muslimen in Europa. Die erste Generation kam aus islamischen Ländern, aus unfreien Gesellschaften, in denen Mündigkeit in religiösen Dingen tabu war, unterdrückt wurde. Man ist sich der Missstände und Unzulänglichkeiten bewusst, findet aber keinen Weg in die Freiheit, weil man doch immer wieder am Alten hängenbleibt. Man kann sich nicht davon lösen, hat Angst davor, die eigene Identität zu verlieren, die Orientierung zu verlieren. Es gibt keinen wirklichen Ersatz für das Alte. Jeglicher Ersatz wird als Leere, als Wüste empfunden.
Erst die nachfolgenden Generationen, die hier aufwachsen, die die Freiheit haben, ihre Religion zu hinterfragen, zu kritisieren, abzulehnen, erst diese Generationen werden das gelobte Land erreichen, weil sie den Mut haben werden, das Alte zurückzulassen und einen Neustart zu wagen.