Sure 5 „Der Tisch“
27 Und verlies ihnen die Kunde von den beiden Söhnen Adams, der Wahrheit entsprechend, als sie ein Opfer darbrachten. Da wurde es von dem einen von ihnen angenommen, während es vom anderen nicht angenommen wurde. Der sagte: „Ich werde dich ganz gewiß töten.“ Der andere sagte: „Gott nimmt nur von den Gottesfürchtigen an.
28 Wenn du deine Hand nach mir ausstreckst, um mich zu töten, so werde ich meine Hand nicht nach dir ausstrecken, um dich zu töten. Ich fürchte Gott, den Herrn der Weltenbwohner.
29 Ich will, dass du meine und deine Sünde auf dich lädst und so einer von den Insassen des (Höllen)feuers sein wirst. Das ist der Lohn der Ungerechten.“
30 Doch machte ihn seine Seele willig, seinen Bruder zu töten. Und so tötete er ihn. Und er wurde einer von den Verlierern.
31 Da schickte Gott einen Raben, der in der Erde scharrte, um ihm zu zeigen, wie er die böse Tat an seinem Bruder verbergen könne. Er sagte: „O wehe mir! War ich unfähig, zu sein wie dieser Rabe und die böse Tat an meinem Bruder zu verbergen?“ So wurde er von denjenigen, die bereuen.
Die Geschichte von Kain und Abel ist bekannt. Kain erschlägt Abel, weil Abels Opfer von Gott angenommen wurde, während sein Opfer von Gott abgelehnt wurde. Wir erfahren auch den Grund dafür: Gott nimmt nur die Opfer von Gottesfürchtigen an.
Jetzt braucht es einen Schuldigen, einen, der dafür büßen soll. Und wer ist es? Der Unschuldige, derjenige, der gar nichts verbrochen hat. Die Passage erinnert an die Stelle, wo Iblis Rache an Adam schwört, weil Gott ihm die Statthalterschaft über die Erde übertragen hat und nicht Iblis.
Der „Teufel“ kennt also keine Selbstkritik, sondern nur Rache, nur Hass.
Abel hingegen hätte alles Recht, sich zu verteidigen, in diesem Falle also auch mit Gegengewalt. denn es wäre Notwehr. Sein Leben steht auf dem Spiel. Aber er verzichtet darauf. Das ein ein Ausdruck seiner Gottesfurcht. Er erklärt auch die Zusammenhänge. Wenn jemand einen anderen tötet, so lädt er nicht nur selbst Schuld auf sich, sondern er lädt auch die Schuld des anderen auf sich. Wie ist das zu verstehen?
Das Leben ist ein einziger Lern- und Erkenntnisprozess. Jeder Mensch begeht Fehler. Keiner ist ohne Schuld. Das irdische Leben dient dazu, diese Fehler als Fehler zu erkennen, sich selbstkritisch zu betrachten, die Fehler zu bereuen, aus ihnen zu lernen und sich zu verbessern, zu entwickeln. Dieser Entwicklungsprozess dauert ein ganzes Leben lang. Wenn man diesen Entwicklungsprozess unterbricht, durch einen Mord z.B., dann nimmt man seinem Opfer die Chance, begangene Fehler aufzuarbeiten und zu bereuen und trägt dadurch eine Mitschuld an diesen unaufgearbeiteten Fehlern.
Durch die Tat des Tötens wird Kain nun zum Verlierer. Das ist ein wichtiger Punkt. Nicht der geplante Mord ist der Mord, sondern der ausgeführte Mord. Es kann jedem passieren, dass er in einem Moment der Wut Rachegedanken hegt, sich irgendwelchen grausamen Phantasien ergibt. Das ist menschlich und verständlich. Es sollte dann aber die Vernunft die Umsetzung dieser Phantasien bremsen. Erst wenn das nicht mehr gelingt, wenn die Tat umgesetzt wird, liegt ein Verbrechen vor. Dazu gibt es auch einen schönen Hadith:
„Wer auch immer die Absicht hat, eine gute Tat zu verrichten, sie aber nicht umsetzt, so wird Gott sie ihm als eine vollständige gute Tat aufschreiben. Und wenn er sie beabsichtigt und dann tatsächlich umsetzt, so wird Gott sie ihm als zehn gute Taten bis zu siebenhundert gute Taten oder mehr aufschreiben. Und wer eine schlechte Tat beabsichtigt, sie aber nicht in die Tat umsetzt, so wird Gott sie ihm als eine vollständige gute Tat aufschreiben. Wenn er sie jedoch tatsächlich begeht, dann schreibt Gott sie ihm als eine einzelne schlechte Tat auf.“ (Bukhari und Muslim)
Nun liegt der Leichnam Abels da. Und stört. Er soll verschwinden. Gott schickt Kain einen Raben. Der Rabe soll ihm zeigen, wie er mit dem lästigen Leichnam verfahren soll. Letztendlich aber wird sich Kain dadurch selbst entlarven und demütigen. Und Gott sorgt dafür, dass diese Selbstentlarvung stattfinden kann.
Rabenvögel sind kluge Tiere. Sie legen Vorräte an. Sie verstecken ihre Beute, um sie später bei Bedarf wieder auszugraben. Nun sind sie so klug, dass sie sich dabei gerne gegenseitig ausspionieren. Klar, es ist einfach die vergrabene Beute des Artgenossen gemütlich auszugraben, als selbst mühselig nach Beute Ausschau zu halten. Die Raben wissen also, dass sie beim Vergraben ihrer Beute gerne heimlich von anderen Raben beobachtet werden. Deswegen bemühen sie sich, ihre Beute tatsächlich in einem unbeobachteten Moment zu vergraben.
Es entsteht folgende Szene:
Ein Rabe hat ein Stück Beute im Schnabel. Er findet ein passendes Versteck, aber er möchte sicher sein, dass ihn kein anderer Rabe beobachtet und so sein Versteck entdeckt. Beim Vergraben schaut er sich immer wieder um, um sicherzugehen, dass er nicht beobachtet wird.
Der Täter. Er verscharrt das Opfer. Die Tat ist vollbracht. Der Leichnam muss weg. Er ist lästig. Er erinnert an die Tat. Er stört. Aus den Augen, aus dem Sinn. Verscharrt ist gleich vergessen/ungeschehen. Immer wieder schaut er sich dabei um, um sicherzugehen, dass er nicht dabei beobachtet wird. Die Tat verbergen. Niemand darf es erfahren. Heimlichtuerei. Wer handelt so? Der Täter.
Kain bereut keineswegs seine Tat. Oh nein! Es ist ihm aber peinlich, dass ein Tier, ein Rabe sein Lehrmeister ist. Im arabischen Original steht nichts von Tauba, dem Wort für aufrichtige Reue also. Nein, Kain ist einer der Naadimin. Nadma bedeutet nicht Reue, sondern eher Selbstbemitleidung.
Kain erkennt in einem kurzen Moment der Selbsterkenntnis, wie dumm er selbst ist, dass er noch nicht einmal weiß, wie man einen lästigen Leichnam verschwinden lässt und dass er sich das ausgerechnet von einem niedrigen Wesen wie einem Tier abschauen muss. DAS ärgert ihn. Nicht der Mord beschäftigt bzw. belastet ihn. Nein! Seine eigene Dummheit beschäftigt bzw. belastet ihn.
10: 54 Und wenn jede Seele, die Unrecht getan hat, das besäße, was auf der Erde ist, würde sie sich wahrlich damit loskaufen. Sie halten Reue ( Nadma) geheim, wenn sie die Strafe sehen. Und es wird in Gerechtigkeit zwischen ihnen entschieden, und es wird ihnen kein Unrecht zugefügt.
Der Begriff Nadma und Ableitungen davon tauchen im Koran an mehreren Stellen im Zusammenhang mit dem Jüngsten Gericht auf. Wenn die Menschen ihre schlechten Taten sehen und verstehen, dass sie sich dafür verantworten müssen, dann empfinden sie Nadma. Das ist keine Reue, das ist Selbstmitleid. Sie bereuen die Tat nicht, sondern sie tun sich selbst leid angesichts der bevorstehenden Auseinandersetzung mit einer Tat, die sie für sich selbst schon längst abgehakt hatten, verdrängt hatten. Und nun kommt das alles wieder hoch, ja nicht nur das, nun werden sie gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen. Das tut weh. Das ist unangenehm und sie bemitleiden sich nun selbst.
Nadma und Tauba sind zwei Begriffe mit einer völlig unterschiedlichen Bedeutung.
Diese kurze Geschichte um Kain und Abel soll dazu anregen, uns über uns selbst und unseere eigenen Absichten im Klaren zu werden, über uns nachzudenken. Wo finde ich mich selbst wieder? Bin ich Kain, bin ich Abel? Habe ich etwas von Kain? Habe ich etwas von Abel? Bin ich ehrlich zu mir selbst? Oder neige ich dazu, mich selbst zu belügen? Setze ich mich mit meinen eigenen Taten auseinander oder schiebe ich das lieber zu Seite? Verdränge es? Und ist eine verdrängte Tat eine erledigte Tat? Oder wird mich das irgendwann alles einholen?